Kim Robinson - Mutter Göttin der Welt

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Kim Stanley Robinson

Mutter Göttin der Welt

1

Mein Leben nahm an jenem Abend wieder seltsame Züge an, als ich Freds Fredericks in der Nähe von Chimoa und der Schlucht des Dudh Kosi über den Weg lief. Ich führte damals einen Trek und freute mich sehr, Freds zu sehen. Er reiste mit einem anderen Bergsteiger, einem Tibetaner namens Kunga Norbu, der sehr wenig Englisch zu sprechen schien, abgesehen von »Hallo« und »Guten Morgen«, was er beides zu mir sagte, als Freds uns miteinander bekannt machte, wenngleich gerade die Sonne untergegangen war. Meine Trekking-Gruppe hatte es sich schon für die Nacht in den Zelten bequem gemacht, und so strebten Freds und Kunga und ich den Teehäusern entgegen, die neben dem Trail am Waldrand standen. Wir sahen in sie hinein; die beiden ersten waren für die Trekker gewienert, doch das dritte war ein Teehaus alten Stils, das nur von Trägern besucht wurde. Wir verschwanden darin.

Es bestand aus einem einzigen niedrigen Raum; wir mußten uns nicht nur unter den Balken bücken, die das Schieferdach trugen, sondern auch unter der Rauchschicht. Die Häuser auf dem Land in Nepal haben traditionell keine Kamine, und der Rauch von ihren Holzöfen steigt einfach zur Decke hinauf und sammelt sich dort in einer sehr dicken Schicht, die sich senkt, bis sie durch die Dachtraufe sickert. Warum die Nepali keine Kamine benutzen, die ich eigentlich für eine ziemlich grundlegende Erfindung halte, ist eine Frage, die niemand beantworten kann; ein weiteres großes Geheimnis von Nepal.

Fünf Holztische waren von Rawang- und Sherpa-Trägern besetzt, die sich auf den Bänken ausgestreckt hatten. Am einen Ende des Raumes knisterte der Ofen. Flammen vom Ofen und eine zischende Coleman-Lampe spendeten das Licht. Wir sagten Namaste zu den Nepali, die uns anstarrten, und tauchten unter dem Rauch hinweg, um am Tisch neben dem Ofen Platz zu nehmen.

Wir ließen Kunga Norbu bestellen, da er mehr Nepalesisch sprach als Freds oder ich. Als er fertig war, kicherten die Rawang-Ofenhüter, gingen zum Ofen und kamen mit drei großen Bechern tibetanischen Tees zurück.

Ich beschwerte mich mit eindeutigen Worten bei Freds darüber. »Verdammt, ich dachte, er wollte Chang bestellen!«

Sie müssen wissen, daß tibetanischer Tee kein gewöhnlicher Lipton’s ist. Man macht ihn aus einer schwarzen Flüssigkeit, die gar nicht aus Teeblättern gebraut wird, sondern aus irgendeiner Wurzel, und die so bitter ist, daß man Wunden damit desinfizieren könnte. Dann schüttet man eine Menge Salz in dieses Gebräu, rührt kräftig um und gießt schließlich noch großzügig ranzige Yakbutter hinzu, die schmilzt und nach oben treibt.

Es schmeckt schlimmer, als es klingt. Ich habe eine Strategie für den Umgang mit diesem Zeug entwickelt, wann immer mir ein Becher angeboten wird. Ich sehe aus dem nächsten Fenster und begieße die Pflanzen damit. Solange ich das nicht zu schnell mache und man mir keinen zweiten Becher anbietet, komme ich damit klar. Aber hier war das unmöglich, da uns über zwanzig lachende Augenpaare anstarrten.

Kunga Norbu saß über den Tisch gebeugt, schlurfte aus seinem Becher und machte »Ooh!« und »Ahh!« und bedachte die Ofenhüter mit Komplimenten. Sie nickten und betrachteten Freds und mich genauer, wobei sie sich ein breites Grinsen nicht verkneifen konnten.

Freds ergriff seinen Becher und trank einen großen Schluck vom Tee. Er schmatzte wie ein Weinprüfer mit den Lippen. »Ausgezeichnet«, sagte er, leerte den Becher und hielt ihn unseren Gastgebern hin. »Mehr?« sagte er und zeigte in den Becher.

Die Träger heulten geradezu. Unser Wirt füllte Freds’ Becher neu, und er machte sich wieder darüber her und schmatzte nach jedem Schluck. Ich gab aus einer Tropfflasche, die ich immer bei mir habe, etwas Jodlösung in meinen Becher, rührte um und hielt mir die Nase zu, um einen Schluck zu trinken, und auch das fanden sie komisch.

Also verstanden wir uns jetzt ganz gut mit den Teehausgästen, und als ich Chang bestellte, brachten sie gleich einen ganzen Krug. Wir gössen es in die kleinen angeschlagenen Teehausgläser und machten uns darüber her.

»Was habt ihr also vor, Kunga Norbu und du?« fragte ich ihn.

»Na ja«, sagte er, und ein seltsamer Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. »Das ist eigentlich eine ziemlich lange Geschichte.«

»Dann erzähl’ sie mir.«

Er schaute unsicher drein. »Sie ist zu lang, um sie heute abend zu erzählen.«

»Wie bitte? Eine Geschichte, die zu lang ist, als daß Freds Fredericks sie erzählen könnte? Unmöglich, Mann. Ich hab’ mal gehört, wie du für Laure die Bibel zusammengefaßt hast, und das dauerte nur eine Minute.«

Freds schüttelte den Kopf. »Sie ist länger als die Bibel.«

»Ich verstehe.« Ich beließ es dabei, und wir drei tranken wieder Chang, was ein Weißbier ist, das aus Reis oder Gerste gebraut wird. Wir tranken eine Menge davon, eine in verschiedener Hinsicht gefährliche Angelegenheit, aber das kümmerte uns nicht. Während wir tranken, sanken wir immer tiefer auf den Tisch, um unter der Rauchschicht zu bleiben, und außerdem erschien uns es ganz natürlich, allmählich unter den Tisch zu rutschen. Schließlich lagen wir da wie ein Schluck Wasser in der Kurve.

Freds unterhielt sich mit Kunga Norbu weiterhin auf Tibetanisch, und ich wurde neugierig. »Freds, du sprichst kaum ein Wort Nepalesisch, wie kommt es da, daß du so gut Tibetanisch kannst?«

»Ich habe ein paar Jahre in Tibet verbracht. Ich studierte in den buddhistischen Lamaklostern.«

»Du hast in buddhistischen Lamaklostern in Tibet studiert?«

»Na klar! Sieht man das nicht?«

»Na ja …« Ich machte eine nichtssagende Handbewegung. »Ich glaube, das erklärt es wohl …«

»Dort habe ich übrigens auch Kunga Norbu kennengelernt. Er war mein Lehrmeister.«

»Ich dachte, er sei Bergsteiger.«

»Ist er auch! Er ist ein kletternder Lama: Es gibt übrigens ziemlich viele davon. Weißt du, als die Chinesen in Tibet einfielen, schlossen sie alle Klöster, zerstörten die meisten sogar. Die Mönche mußten jetzt arbeiten, und die Lamas gingen entweder nach Nepal oder zogen zu den Berghöhlen hinauf. Später wollten die Chinesen dann zu Propagandazwecken mit dem Bergsteigen anfangen, um zu zeigen, wie richtig die Gedanken des Vorsitzenden Mao gewesen waren. Die Höhe des Himalaja machte ihnen aber ziemlich zu schaffen, und so benutzten sie hauptsächlich Tibetaner, die sie als Chinesen ausgaben. Und als Tibetaner mit der größten praktischen Bergerfahrung erwiesen sich die buddhistischen Mönche, die ziemlich viel Zeit in wirklich hochgelegenen, abgeschiedenen Schlupfwinkeln verbracht hatten. Acht der neun sogenannten Chinesen, die 1975 den Gipfel des Everett bezwangen, waren in Wirklichkeit Tibetaner.«

»War Kunga Norbu einer davon?«

»Nein. Obwohl er gern dabeigewesen wäre, das kann ich dir sagen. Aber er kam bei der chinesischen Expedition 1980 ziemlich weit die Nordwand hinauf. Er ist ein wirklich starker Kletterer. Und auch ein großer Guru, ein echter Heiliger.«

Kunga Norbu hatte mitbekommen, daß wir über ihn sprachen, und betrachtete mich über den Tisch. Er war klein und drahtig, hatte langes schwarzes Haar und sah sehr zäh aus. Wie viele Tibetaner wirkte er fast wie ein Indianer vom Stamm der Navajos oder Apachen. Als er mich ansah, stellte sich ein seltsames Gefühl bei mir ein: Es war, als würde er glatt durch mich hindurch in die Unendlichkeit sehen. Oder zu einem anderen, genauso weit entfernten Ort. Die Lamas haben diesen Blick zweifellos kultiviert.

»Und was macht ihr beiden also hier oben?« fragte ich; mir war etwas unbehaglich zumute.

»Wir wollen mit meinen englischen Freunden den Lingtren besteigen. Müßte toll werden. Und danach unternehmen Kunga und ich vielleicht noch was auf eigene Faust.«

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