„Mein Freund“, sagte der Empath, und Conway konnte sich vorstellen, wie Prilicla versuchte, eine Möglichkeit zu finden, die Auswirkung seiner schlechten Nachricht zu mildern, „das war Oberschwester Naydrad. Auf dem Schiff weisen sämtliche DBDGs von der Erde, einschließlich der Pathologin Murchison, die gleichen Symptome wie die Offiziere der Tenelphi auf, wenn auch mit unterschiedlichen Auswirkungen auf ihre Einsatzfähigkeit. Der Captain und Lieutenant Chen sind davon bisher am wenigsten betroffen, aber sie befinden sich beide in einem Zustand, der sie bettlägerig macht. Naydrad benötigt dringend unsere Hilfe, und der Captain sagt, er wird ohne uns abfliegen, wenn wir uns nicht beeilen. Lieutenant Chen glaubt überhaupt nicht mehr an einen Abflug, selbst wenn sie die Hyperraumantriebshülle nicht hätten modifizieren müssen, um die Tenelphi aufzunehmen. Es scheint ein zusätzliches Problem durch die Nähe des Zentralgestirns dieses Systems zu geben, das offensichtlich nur durch einen erfahrenen Astronavigator gelöst werden.“
„Das genügt“, unterbrach ihn Conway ungeduldig. „Sagen Sie denen, sie sollen die Tenelphi abkoppeln und dann abdecken. Sämtliche Proben, die Chen von der Tenelphi zur Analyse an Bord gebracht hat, müssen sofort abgeworfen werden. Weder das Hospital noch das Monitorkorps wird sich darüber freuen, wenn wir irgend etwas mitbringen, das in Kontakt mit dem alten Wrack gekommen ist. Vielleicht wird man sogar noch nicht einmal sonderlich erfreut sein, uns zu sehen.“
Er brach ab, als er hörte, wie Naydrad seine Anweisungen an den Captain weitergab. Und als er den Anfang von Fletchers Antwort vernahm, fuhr er rasch fort: „Doktor Prilicla, ich empfange das Schiff jetzt direkt, deshalb brauche ich Sie nicht mehr als Zwischensender. Kehren Sie so schnell wie möglich zum Schiff zurück, und helfen Sie Naydrad bei der Versorgung der Patienten. In ungefähr fünfzehn Minuten werden wir aus dem Tunnel heraus sein. Captain Fletcher, können Sie mich hören?“
Eine belegte Stimme, die Conway nicht als die des Captains erkannte, murmelte leise: „Ich kann Sie hören.“
„Gut“, erwiderte Conway und erklärte in knappen Worten, was mit der Tenelphi und ihnen selbst geschehen war.
In einem Sternsystem, das gerade vermessen wurde, ein Wrack zu finden, war für die Besatzung eines Aufklärungsschiffs stets eine willkommene Abwechslung. So waren auch die nicht diensthabenden Offiziere der Tenelphi in ihrer Freizeit an Bord des Generationenschiffs gegangen, um es vor Ort zu untersuchen und möglichst zu identifizieren. Wie bei allen Aufklärungsschiffen im Vermessungseinsatz bestand die vollzählige Besatzung der Tenelphi aus einem Captain und den Offizieren für Astronavigation, Kommunikation, Technik und Medizin, während die restlichen fünf die Vermessungsspezialisten waren, deren Arbeit rund um die Uhr ging.
Nach Sutherlands Angaben hatten die ersten Offiziere, die an Bord des Generationenschiffs gegangen waren, das Schiff schnell identifizieren können, da sie das Glück gehabt hatten, eine mit Datum und Schiffswappen versehene Vorratsliste zu finden. Die Folge war, daß jedermann, selbst der Captain, sich sofort zum Wrack begaben. Lediglich der Schiffsarzt war an Bord der Tenelphi zurückgeblieben, weil man ihn aufgrund seiner beruflichen Funktion am ehesten bei der Erkundung des Wracks glaubte entbehren zu können — das Ganze war plötzlich zu einer Art Massenübung im Zusammentragen von Informationen geworden.
Denn bei dem Wrack handelte es sich um nichts anderes als die Einstein — also um das erste interstellare Raumschiff, das von der Erde gestartet war, und das einzige der frühen Generationenschiffe von diesem Planeten, das nicht von den späteren mit Hyperraumantrieb ausgestatteten Raumschiffen geborgen worden war. Im Laufe der Jahrhunderte hatte es viele Versuche gegeben, das Schiff zu bergen, doch die Einstein war nicht dem geplanten Kurs gefolgt. Man hatte vermutet, daß sie innerhalb kurzer Zeit nach dem Verlassen des Sonnensystems einer technischen Katastrophe zum Opfer gefallen war.
Und da war er also nun, der erste und unzweifelhaft mutigste Versuch der Menschheit, nach den Sternen zu greifen — und das auf die schwierigste Art und Weise, weil ihre Technologie zu dieser Zeit noch unerprobt war. Obwohl damals niemand mit absoluter Sicherheit wußte, ob das Zielsystem überhaupt bewohnbare Planeten enthielt, wollte die Schiffsbesatzung — die fähigsten Leute, die die Erde hervorbringen konnte — unbedingt diese Reise ins Ungewisse antreten. Darüber hinaus war die Einstein ein Stück technologischer und psychosoziologischer Geschichte, die Verkörperung einer der größten Legenden der Raumfahrt schlechthin. Und dieses Schiff stürzte mit seinen unschätzbaren Aufzeichnungen samt Logbuch in die Sonne und würde innerhalb einer Woche zerstört werden. Deshalb war es kein Wunder, daß man nur den medizinischen Offizier an Bord der Tenelphi zurückgelassen hatte. Aber selbst er hatte die Gefahr, die diese Situation barg, erst erkannt, als die Besatzung krank, schwitzend und dem Delirium nahe zurückkehrte. Von Beginn an hatte Sütherland Conways anfänglichen Vermutungen widersprochen, ihr Zustand rühre von radioaktiver Verseuchung, dem Einatmen giftiger Stoffe oder dem Verzehr infizierter Nahrungsmittel her. Die zurückkehrenden Offiziere hatten ihm nämlich davon berichtet, welche Verhältnisse an Bord des Wracks herrschten und wie lange spätere Nachkommen der ursprünglichen Besatzung hatten überleben können.
Auf dem Schiff gab es nicht nur unermeßlich wertvolle Aufzeichnungen über den ersten interstellaren Flugversuch der Menschheit; es enthielt auch eine unbekannte Anzahl verschiedenster Krankheitserreger, die durch die Wärme, die Atmosphäre und die bis vor kurzem lebenden menschlichen Organismen fortbestehen konnten und zu Arten gehörten, die vor siebenhundert Jahren existierten und gegen die die menschliche Spezies heute nicht mehr immun war.
Da Sutherland die sich rapide verschlechternde Verfassung seiner Offizierskameraden die ganze Zeit beobachtet hatte, wußte er, daß er nur sehr wenig für sie tun konnte. Er bestand allerdings darauf, daß sie alle ständig Raumanzüge trugen, um die Möglichkeit einer gegenseitigen Ansteckung zu vermeiden — schließlich konnte er ja nicht absolut sicher sein, ob sie alle an derselben Krankheit litten. Zudem sollten die Anzüge als Schutz im Falle eines eventuellen Unfalls dienen, während sich das Schiff vom Wrack der Einstein entfernte. Ihr Plan war, durch den Hyperraum zum Orbit Hospital zu springen, wo man sie medizinisch besser hätte versorgen können.
Als sich die Kollision ereignete — die laut Sutherland unvermeidlich war, wenn man den halbbewußtlosen und deliriumgleichen Zustand der Besatzung bedachte —, brachte er die Männer zur Schleusenvorkammer, um so eine schnelle Evakuierung vorzubereiten. Dann versuchte er eine Nachricht über Subraumfunk zu senden und, weil er nicht wußte, ob er es richtig gemacht hatte, die Notsignalbake auszusetzen. Aber die Kollision hatte den Auslösungsmechanismus beschädigt, und er mußte die Bake mit Händen und Füßen aus der Luftschleuse schieben. Der Zustand seiner Patienten verschlechterte sich, und er fragte sich wiederholt, ob es überhaupt etwas gab, das er für sie tun konnte.
Zu diesem Zeitpunkt faßte er den Entschluß, selbst an Bord des Wracks zu gehen, um dort, wo die Krankheit ihren Ursprung gehabt hatte, nach einem möglichen Heilverfahren zu suchen. Die Antwort konnte er vielleicht im Arzneischrank des Wracks finden — dem „… neikasten“ des zerstückelten Funkspruchs. Da der Druck an Bord der stark in Mitleidenschaft gezogenen Tenelphi stetig sank und alle Aufzeichnungsgeräte an Bord der Einstein zurückgelassen worden waren, konnte er für irgendwelche zukünftigen Retter keine eindeutige Warnung hinterlassen. Doch er tat sein Bestes.
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