Cha Thrat richtete all ihre Augen auf den Chefarzt, und das auf eine Art, die auf Sommaradva eine sofortige verbale und körperliche Reaktion ausgelöst hätte. „Meinen ersten Gedanken habe ich Ihnen gerade genannt. Mein zweiter war, daß bei den Hudlarern möglicherweise eher die männlichen als die weiblichen Wesen, vielleicht auch beide Geschlechter, Kosmetika benutzen. Dann habe ich beobachtet, daß sich der Alien sehr vorsichtig bewegt hat, als hätte er Angst, andere Lebewesen oder Geräte in seiner Nähe zu beschädigen oder zu verletzen. Das sind die Bewegungen eines Wesens von ungeheurer Körperkraft. Zusammen mit der gedrungenen, untersetzten Gestalt und der Tatsache, daß er nicht zwei oder vier, sondern sechs Beine hat, deutet das auf den Bewohner eines Planeten mit einer sehr dichten Atmosphäre, hoher Schwerkraft und entsprechendem atmosphärischen Druck hin, wo ein versehentlicher Sturz Verletzungen zur Folge hätte. Die sehr harte, aber biegsame Haut, die nirgends irgendwelche ständigen Körperöffnungen zur Aufnahme oder Ausscheidung von Nahrung aufweist, läßt darauf schließen, daß es sich bei der Farbe, mit der sich der Hudlarer nach meiner Beobachtung besprüht hatte, um so etwas wie ein Nahrungspräparat handelt.“
Die ganze Zeit über waren Cresk-Sars Augen und die mannigfaltigen Sehorgane der anderen auf sie geheftet. Niemand sagte ein Wort.
Zögernd fügte Cha Thrat hinzu: „Ein weiterer interessanter und faszinierender Gedanke, der aber wohl eher auf bloßer Vermutung beruht, ist, daß der Körper dieses unter extremen Schwerkraft- und Druckverhältnissen lebenden Aliens über einen eigenen hohen Innendruck verfügen muß, da er den Umweltbedingungen des Hospitals ohne Schutz standhalten kann und ihm wahrscheinlich sogar noch geringere Druckverhältnisse als hier nicht einmal zu schaffen machen würden.
Vielleicht ist er sogar in der Lage, ohne Schutzanzug im All zu arbeiten“, fuhr sie fort, wobei sie insgeheim schon damit rechnete, von dem nidianischen Chefarzt mit Hohn und Spott überschüttet zu werden. „Und das würde bedeuten, daß er.“
„Demnächst nennen Sie mir auch noch seine physiologische Klassifikation“, unterbrach Cresk-Sar sie mit erhobener Hand, „obwohl wir über das hier gehandhabte System noch kein Wort verloren haben. Ist es eigentlich das erstemal, daß Sie einen Hudlarer gesehen haben?“
„Nein, zwei habe ich schon zuvor in der Kantine gesehen“, antwortete Cha Thrat. „Aber zu der Zeit bin ich noch viel zu verwirrt gewesen, als daß ich meine optischen Eindrücke hätte verarbeiten können.“
„Möge sich Ihre Verwirrung weiterhin verringern, Cha Thrat“, sagte Cresk-Sar geheimnisvoll. Dann fuhr er an alle gewandt fort: „Diese Schülerin hat Ihnen soeben demonstriert, was es heißt, zu beobachten und die richtigen Folgerungen daraus zu ziehen. Wenn Sie diese Fähigkeit erst einmal gelernt und entwickelt haben, werden Sie imstande sein, mit Ihren Kollegen und Patienten von anderen Spezies zusammenzuleben, sie zu verstehen und auch zu behandeln. Jedenfalls würde ich Ihnen den Rat geben, eine bestimmte Lebensform in Gedanken nicht als Nidianer, Hudlarer, Kelgianer, Melfaner oder Sommaradvaner zu bezeichnen, sondern als DBDG, FROB, DBLF, ELNT beziehungsweise DCNF. Auf diese Weise werden Sie immer an die jeweils benötigten Druck—, Schwerkraft- und Atmosphäreverhältnisse sowie an den grundlegenden Stoffwechsel und andere physiologische Bedürfnisse erinnert und wissen sofort, wann und ob eine Umweltbedingung für Sie oder andere Wesen eine potentielle Gefahr darstellt.
Sollte beispielsweise ein PVSJ, der chloratmende Bewohner von Illensa, versehentlich seinen Druckanzug zerreißen, dann bestünde für den Alien selbst sowie für jeden Sauerstoffatmer mit dem ersten Buchstaben D, E und F in dessen näheren Umgebung äußerste Gefahr. Und falls Sie jemals zu einer Rettungsaktion im All gerufen werden, könnte es vorkommen, daß eine dringende und genaue Bestimmung der physiologischen Klassifikation eines Unfallopfers — und damit seiner Lebenserhaltungsbedürfnisse — von einer einzigen Gliedmaße oder einem kleinen Stück der Körperoberfläche abhängt, weil unter den sich verschiebenden Wrackteilen nur hin und wieder eine kleine Stelle von ihm zu sehen ist.
Sie müssen üben, all die unterschiedlichen Merkmale der Lebewesen in Ihrer näheren Umgebung instinktiv wahrzunehmen“, fuhr Cresk-Sar fort und gab dabei leise ein bellendlachendes Geräusch von sich, „und sei es nur, um zu wissen, wen man ohne Gefahr auf den Gängen und Korridoren anrempeln darf Und jetzt werde ich Sie auf Ihre jeweiligen Stationen bringen, damit Sie Ihre ersten Erfahrungen mit Patienten sammeln können, bevor ich meine nächste Klasse in.“
„Was ist mit dem Klassifikationssystem?“ fragte die Kelgianerin — die DBLF, korrigierte sich Cha Thrat — mit dem silbernen Fell neben ihr. „Wenn es wirklich so wichtig ist, wie Sie gesagt haben, dann taugen Sie offenbar nicht zum Ausbilder, schließlich hätten Sie es uns sonst erklärt.“
Cresk-Sar ging langsam auf die Sprecherin zu, und Cha Thrat fragte sich, ob sie vielleicht die zu erwartende verbale Gewalt durch eine zweite, höflicher formulierte Frage an den Chefarzt abschwächen könnte.
Doch aus irgendeinem Grund übersah der Nidianer die DBLF völlig und wandte sich statt dessen an Cha Thrat.
„Wie Sie bereits bemerkt haben dürften“, begann er gemächlich, „nimmt diese kelgianische Lebensform der Klassifikation DBLF kein Blatt vor den Mund, hat schlechte Umgangsformen, ist unverschämt und besitzt überhaupt kein Taktgefühl.“
Sie haben gut reden, dachte Cha Thrat.
„. aber dafür gibt es einleuchtende psycho-physiologische Gründe“, fuhr er fort. „Aufgrund der unzulänglichen Anatomie der kelgianischen Sprechorgane weist die gesprochene Sprache dieser DBLFs keine Intonation und Akzentuierung und damit keinerlei emotionale Ausdrucksfähigkeit auf. Doch das wird durch das äußerst bewegliche Fell
ausgeglichen, das die Empfindungen des Sprechers, zumindest für einen Kelgianer, vollständig, aber auch unwillkürlich widerspiegelt. Deshalb sind diesen Wesen Begriffe wie Lüge, Diplomatie, Taktgefühl oder gar Höflichkeit vollkommen fremd. Ein DBLF sagt genau das, was er meint oder fühlt, da das Fell ständig seine Empfindungen verrät und es pure Dummheit wäre, sich anders zu verhalten. Aber die Kelgianer haben es auch mit vielen von uns Aliens nicht leicht, denn durch die Höflichkeit und die sprachlichen Umschreibungen, der wir uns bedienen, lassen sie sich wiederum leicht verwirren und irritieren.
Ihnen wird hier im Hospital die eine oder andere Mentalität genauso fremdartig vorkommen wie die Lebensformen selbst“, fuhr er fort. „Wenn ich mir überlege, daß Sie vor Ihrer Ankunft erst einem einzigen Alien, nämlich einem Terrestrier begegnet sind, bin ich mir aufgrund Ihres heutigen Verhaltens sicher, daß Sie keinerlei Anpassungsschwierigkeiten haben werden und.“
„Streberin!“ zischte die DBLF, wobei sich ihr Fell zu Stacheln bündelte. „Schließlich war ich diejenige, die die Frage gestellt hat. Erinnern Sie sich, Cresk-Sar?“
„Allerdings waren Sie das“, antwortete Cresk-Sar und blickte auf die Wanduhr. „Irgendwann im Laufe des heutigen Tages wird man Ihnen Videobänder, auf denen das physiologische Klassifikationssystem der verschiedenen Lebensformen behandelt wird, in Ihre Unterkünfte schicken. Sehen Sie sich das Bildmaterial mehrmals aufmerksam an, und verwenden Sie für den gesprochenen Begleittext Ihre Translatoren. Im Augenblick bleibt mir nur noch soviel Zeit, um Ihnen einen Überblick über die Grundlagen des Systems zu geben.“
Cresk-Sar wandte sich abrupt ab und nahm wieder seinen Platz vor den Auszubildenden ein. Ganz offensichtlich war der kommende Vortrag an alle gerichtet.
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