Die Wemarerin musterte der Reihe nach sämtliche Mitglieder des medizinischen Teams, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Empathen zuwandte. „Ich weiß nicht das Geringste über Sie — ich kenne weder ihre Lebensgewohnheiten noch Ihre Ansichten über seltsame Orte und Lebewesen, nicht einmal Ihre Eßgewohnheiten, einfach nichts. Plötzlich ist mir klargeworden, daß Sie unser Zuhause vielleicht nicht besichtigen sollten. Die Verbindungsgänge sind schmal und niedrig. Hell genug ist es nur an unseren Versammlungsplätzen, und das täglich auch nur für begrenzte Zeit. Selbst unter den Wemarern gibt es welche, denen geschlossene Räume oder der Gedanke an das ungeheure Gewicht des Felsgesteins zu schaffen machen, das über ihnen hängt.
Insbesondere Sie sind ja ein Bewohner der Lüfte, der es gewohnt ist, frei umherzufliegen“, fuhr Tawsar fort. „Ich fürchte, Ihr zerbrechlich wirkender Körper und die Flügel mit der großen Spannweite sind nicht für das Herumkriechen im Innern eines Bergs geeignet.“
„Für Ihre Besorgnis bin ich Ihnen zwar dankbar, meine Freundin, doch sie ist überflüssig“, klärte Prilicla sie auf. „Wir alle sind es gewohnt, in einem Bauwerk zu arbeiten, das wie ein Berg aus Metall ist und von verschieden großen Stollen durchzogen, die die Räume miteinander verbinden. Diese Räume sind alle gut erhellt, und sollten Ihre für uns zu dunkel sein, haben wir immer noch unsere eigenen Beleuchtungsquellen dabei. Falls jemandem mulmig wird, steht es ihm frei, nach draußen zurückzukehren. Aber ich glaube nicht, daß sich ein derartiges Gefühl bei irgend jemandem von uns einstellen wird.“
Wie Gurronsevas wußte, reichte im Wahrnehmen und Deuten von Empfindungen niemand an Prilicla heran, dennoch war er sich seiner eigenen Gefühle nicht so sicher wie der Empath; er haßte nämlich dunkle und enge Räume. Doch nachdem man ihn als einen der Beschützer des Teams bezeichnet hatte, konnte er sich nicht mehr wie ein Feigling verhalten und sich weigern, die Mine zu betreten, bevor er überhaupt festgestellt hatte, wie es dort im Innern aussah.
„Ich selbst schlafe beispielsweise in einem kokonähnlichen Raum ohne Licht“, fuhr Prilicla fort. „Die Flügel und die sehr langen Gliedmaßen kann ich so falten und verschränken, daß es mir möglich ist, zusammen mit Ihnen auf der Krankentrage zu fahren — falls Sie nichts dagegen haben. Wie eng sind die Stollen denn? Wird jeder von uns ungehindert hindurchkommen?“
„Ja“, antwortete Tawsar. Dann warf sie einen Blick auf Gurronsevas und fügte hinzu: „Wenn auch nur knapp.“
Angeführt von Danalta, schob Naydrad wenige Minuten später die Trage, auf der Tawsar und Prilicla hockten, in den Eingang hinein. Dahinter folgten Murchison und schließlich Gurronsevas, der aus der Sichtweise des besorgten Captains die Nachhut bildete, vom Standpunkt der Pathologin her jedoch eher eine bewegliche organische Thrombose darstellte.
Doch der Pfropfen blieb nicht hängen, wie Gurronsevas mit Erleichterung feststellte, denn der Stollen war breiter und höher, als er erwartet hatte, und auch besser beleuchtet, so daß er nicht einmal den Sichtverstärker benutzen mußte. Vielleicht waren die Augen der Wemarer weniger lichtempfindlich als die der Tralthaner, oder Tawsar hatte sich schon im voraus für die Unzulänglichkeiten der Wemarer Technik entschuldigen wollen. Prilicla und die DHCG unterhielten sich leise, doch wegen des ständigen Trappelns von Naydrads vielen Füßen konnte Gurronsevas nichts verstehen, und die Gesprächspausen füllte der Captain, indem er sich über seine Sorgen ausließ oder Informationen verbreitete.
„Den Tiefensensoren zufolge handelt es sich um eine erschöpfte und schon seit langem stillgelegte Kupfermine“, berichtete Fletcher gerade. „Nach dem Zustand der Stützkonstruktion der Stollen zu urteilen, könnte sie Jahrhunderte alt sein, allerdings weist sie Spuren einer kürzlichen Instandsetzung auf. Viele der tieferen Gänge sind durch Felsstürze versperrt, und selbst wenn die Wemarerin Ihnen nichts Böses will, können Sie sich nicht durch Reden aus einem eingestürzten Stollen befreien. Bitte überlegen Sie es sich noch mal, und bitten Sie Tawsar, das Gespräch im Freien zu führen.“
„Nein, mein Freund“, wehrte Prilicla auf der Frequenz des Schilfsfülnks ab. „Tawsar will sich mit uns in der Mine unterhalten. Sie ist sehr verlegen, und das deutet darauf hin, daß sie es vorzieht, ungestört mit uns zu sprechen. Die Beängstigung, die für einen drohenden Stollenemstürz charakteristisch wäre, ist bei ihr überhaupt nicht zu spüren.“
„Also schön, Doktor“, gab der Captain nach. „Haben Sie irgendwelche Atemprobleme? Nimmt jemand Gerüche wahr, die auf einen Austritt von brennbarem Gas hindeuten könnten?“
„Nein, mein Freund“, antwortete der Empath. „Die Luft hier ist kühl und frisch.“
„Das überrascht mich nicht“, sagte Fletcher. „Schließlich werden nur die oberen Stollen benutzt, und die Wemarer haben durch Bohrungen ein raffiniertes System aus natürlichen Lüftungsschächten angelegt, die keine Energie benötigen. Sie verfügen über einen kleinen Generator, der genügend Strom für die Beleuchtung erzeugt und durch einen unterirdischen Fluß angetrieben wird, der auf der anderen Seite am Fuß des Bergs wieder ans Tageslicht tritt. Zudem haben wir ein paar Stellen mit hohen Temperaturen registriert, bei denen es sich wahrscheinlich um Kochstellen oder Öfen handelt, sowie einige Stoffe, die als Nebenprodukte bei der Verbrennung entstehen — aber der Grad der Verschmutzung ist nicht lebensbedrohlich. Seien Sie trotzdem vorsichtig.“
„Danke, das werden wir“, versicherte ihm Prilicla und setzte das Gespräch mit Tawsar fort.
Sie kamen an den Öffnungen vieler Nebenstollen und kleiner, unbeleuchteter Kammern vorbei, und an mehreren Stellen schrammte Gurronsevas mit dem Kopf und den Seiten an den Wänden oder der Decke des Stollens entlang. Doch die Luft, die sanft an ihm vorbeizog, war kühl und frisch und nur leicht von einem Geruch durchsetzt, den Murchison als eine Mischung aus Rauch von brennendem Holz und ganz geringen Anteilen desjenigen Dufts erkannte, den man allgemein mit der Essenszubereitung in Verbindung bringt. Einige Minuten später bewegte sich der Zug am Eingang zur Küche vorbei.
„Freund Gurronsevas“, sagte Prilicla, wobei er den Stimmverstärker benutzte, damit er bis nach hinten zum Tralthaner zu hören war, „ich spüre Ihre große Neugier und glaube, der Grund dafür leuchtet mir ein, aber im Moment wäre es für das Team besser zusammenzubleiben.“
Als der Essensduft mit zunehmender Entfernung immer schwächer wurde, bediente sich Gurronsevas seines Geruchssinns, der durch lebenslange Erfahrungen in den Kochkünsten geschärft worden war, um zu versuchen, die einzelnen Bestandteile des Dufts herauszufiltern und zu bestimmen. Dieser Duft war vollkommen anders als alles, was er bisher gerochen hatte. Oder doch nicht?
Von einem feinen Nebel aus Wasserdampf, der winzige Mengen von gelöstem Salz enthielt, wurde ihm das unverkennbare Aroma mehrerer verschiedener Gemüsesorten zugetragen, die zusammen gekocht oder gedünstet wurden. Eine dieser Gemüsesorten hatte einen herben, kräftigen Geruch, der ihn an den des gekochten Somrathgemüses oder an die terrestrische Kohlsorte erinnerte, die einige Kelgianer so gerne mochten, doch die übrigen Gerüche waren viel zu mild, um irgendwelche Vergleiche mit Pflanzenarten anderer Planeten zu riskieren. Zu diesen Gerüchen gehörte auch ein schwacher, scharfer Duft, der fast mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von geschrotetem Mehl stammte, das in einem Ofen gebacken wurde. Doch das Überraschendste an dieser Wemarer Duftmischung waren die Gerüche, die darin fehlten.
Voller Nachsicht hielt sich Gurronsevas vor Augen, daß es in der Föderation mehrere Spezies gab, die eine erstklassige Technik und eine Zivilisation mit großem Kunstverständnis entwickelt hatten, während ihre Kochkunst in der kulturellen Wüste auf der Strecke geblieben war.
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