„Ich glaube, du bluffst“, sagte ich. „Ich komme.“
Ich umklammerte den Träger fester …
Dann gingen mir plötzlich Gedanken durch den Kopf, die ich normalerweise überhaupt nicht kenne: Was ist, wenn du fällst?
Ich zögerte – es war aber auch eine zu dumme Angelegenheit. Wer dachte schon an so etwas? Natürlich wußte ich genau, daß ich fallen konnte. Das war mir schon mehrmals passiert, mit den unterschiedlichsten Resultaten. Aber natürlich macht man sich darüber nicht bewußt Gedanken bei solchen Aktivitäten.
Es ist sehr, sehr tief. Hast du dich je gefragt, was für Gedanken dir durch den Kopf gehen könnten, kurz bevor die Lichter ausgehen?
Ich glaube, das hat sich jeder einmal gefragt, bei der einen oder anderen Gelegenheit. Solche Probleme sind aber in Wirklichkeit kaum der Rede wert, Gedanken daran sind etwas, was man ruhigen Gewissens auf dem Altar geistiger Gesundheit opfern sollte.
Schau hinab. Wie tief? Wie viele Meter bis dort unten? Was fühlt man bei einem solchen Fall? Spürt man ein Kribbeln in den Fingerspitzen, in den Zehen, in den Fäusten, den Knöcheln?
Natürlich. Aber wieder …
Schwindelanfälle! Sie überfluteten mich, Woge um Woge. Ein Gefühl, das ich noch niemals zuvor mit solcher Intensität gespürt hatte.
Fast gleichzeitig erkannte ich die Quelle meines Unbehagens. Es hätte schon einer großen Naivität bedurft, nicht dahinterzukommen.
Mein kleiner bepelzter Freund sandte die Panikgedanken aus, um das Gefühl der Akrophobie in mir zu erwecken.
Aber manche Dinge müssen einfach tiefer gehen als das Physische oder das Somatopsychische. Zumindest jene kleinen Mystizismen, die meine einzige Religion ausmachen. Ich beharre darauf, daß es nicht so einfach ist, Liebe in Haß zu verwandeln oder Sicherheit in Furcht, daß es nicht so einfach ist, die Früchte eines Lebens in einem einzigen, irrationalen Augenblick über Bord zu werfen.
Ich hämmerte mit den Fäusten gegen den Pfahl. Ich biß meine Lippe blutig. Ich hatte Angst. Ich, Fred Cassidy, hatte Angst vor dem Fallen. Angst vor dem Klettern.
Fallen, fallen … Nicht das sanfte Schweben eines Blattes oder eines Stücks Papier, sondern das Hinabdonnern eines schweren Körpers … Die einzigen Interferenzen sind wah r scheinlich die Pfeiler unseres Gerüsts … Hier ein blutiger Abdruck, dort ein weiterer … Wahrscheinlich lassen sich nur anhand solcher Sp ur en Stürze rekonstruieren … Wie bei den Bäumen, an die sich deine nicht allzu fernen Vorfahren furchtsam klammerten …
Das genügte. Er hatte mir gegeben, was ich gewollt hatte, worauf ich die ganze Zeit schon hoffte. Ein Objekt außerhalb meines Selbst, auf das ich mich voll konzentrieren konnte. In seinen Angriff auf mich hatte sich eine Schmähung gegenüber der ganzen menschlichen Rasse eingeschlichen. Damit hatte Sibla mich damals schon ungeheuer aufgebracht, als ich in Merimees Wohnung gewesen war. Mehr brauchte ich nicht.
„Schon gut“, sagte ich. „Dieselben Vorfahren haben Dingen wie dir nur so zum grausamen Spaß die Gliedmaßen einzeln abgerissen, um nachzusehen, ob ihr wirklich immer auf den Füßen landet, wenn ihr fallt. Ein sehr altes Spiel. Aber es wurde seit Jahrhunderten nicht mehr gespielt. Ich werde es im Namen meiner Väter wieder einführen. Für die alten Anthropoiden mit ihren krummen Daumen!“
Ich steigerte mich bewußt in eine kalte Wut hinein, ließ meinem Zorn freien Lauf.
Ich umklammerte den Balken. Ich zog mich hoch.
Ich sah kurz nach oben, zog mich voran, sah wieder hoch, ging weiter. Ein seltsamer Triumph durchströmte mich angesichts seiner Unentschlossenheit. Ich hatte seinem geistigen Bombardement standgehalten. Als ich seine Etage erreicht hatte, zog ich den Kopf ein und umklammerte mit beiden Händen eine waagerechte Strebe, weit genug auseinander, daß ich mich bei einem Angriff immer noch mit einer festhalten konnte.
Er duckte sich, als wolle er angreifen, überlegte es sich jedoch wieder anders und wich zurück.
Ich zog mich hoch. Ich stand.
Ich sah ihm nach. Er blieb erst wieder stehen, als er das äußerste Ende des Rechtecks erreicht hatte, auf dem wir uns befanden. Dann ging ich zur nächsten Ecke, er wich in die entfernteste zurück. Ich ging eine Seite hoch, er die andere hinab. Ich blieb stehen. Er blieb stehen. Wir sahen einander an.
„Na schön“, sagte ich und zündete mir eine Zigarette an. „Über kurz oder lang wirst du verlieren. Die Burschen dort unten schlafen nämlich auch nicht, wie du dir denken kannst. Sie werden um Verstärkung bitten. Bald wird jeder Fluchtweg abgeriegelt sein. Ich wette sogar, bald wird jemand mit einem Helikopter hier ankommen, mit einem Infrarotsuchgerät und einem Gewehr. Ich hielt es in auswegslosen Situationen immer für besser einzulenken, anstatt vorsätzlich in mein Unglück zu rennen. Ich bin sowohl Repräsentant meines Landes als auch der Vereinten Nationen. Was auch immer dir lieber ist … entscheide dich.“
Ausgezeichnet, empfing ich einen Gedanken. Ich ergebe mich dir in deiner Eigenschaft als Angestellter des Innenministeriums.
Sofort ging er zur nächsten Ecke, blieb dort kurz stehen und kam dann mit gleichmäßiger Geschwindigkeit angetrottet. Ich ging ebenfalls in die Ecke, die ich erst kurz vorher verlassen hatte. Er erreichte sie vor mir, wartete aber nicht, sondern kam auf mich zu.
„Bleiben Sie dort stehen“, sagte ich in offiziellem Tonfall. „Betrachten Sie sich als festgenommen.“
Statt dessen kam er näher und sprang mich an. Gedanken tauchten in meinem Kopf auf, die im großen und ganzen etwa bedeuteten:

Stirb, Nestbeschmutzer!
Meine Hand war im Augenblick seines Sprunges hochgeschnellt, in Ermangelung einer anderen Waffe hatte ich ihm meine Zigarettenkippe ins Gesicht geschnippt.
Er konnte ihr gerade noch ausweichen, kurz bevor seine Füße vom Träger abhoben. Ich duckte mich, bemüht, mit meinen erhobenen Händen gleichzeitig Schutz zu suchen und das Gleichgewicht zu wahren.
Er prallte gegen mich, aber weder an der Kehle noch an der Schlagader. Er traf auf meine linke Schulter, wonach er sich wie wild in mein Schulterblatt und meinen Oberarm hineinkrallte. Dann fiel er.
Es folgte ein Augenblick unbewußter Reaktionen und Gedanken: das Gleichgewicht wiedererlangen, dieses kleine, bösartige Ding retten – aus welchen Gründen auch immer –, den rechten Arm ausstrecken, das Gewicht auf den linken Fuß verlagern, mit der linken Hand festhalten, nicht zu weit hinausbeugen, greifen – vorsieht, nicht straucheln, jetzt kommt der Ruck …
Ich hatte ihn! Ich hatte ihn am Schwanz zu fassen bekommen. Aber …
Ein kurzer Augenblick des Widerstandes, ein reißendes Geräusch, eine plötzliche Gewichtsverlagerung zur anderen Seite …
Ich hielt einen steifen, künstlichen Schwanz in der Hand, Reste eines geschickt angefertigten Kostüms klebten noch daran. Ich erhaschte einen flüchtigen Blick auf die schwarze Gestalt, als sie durch die hell erleuchteten Regionen stürzte. Ich glaube kaum, daß sie auf den Füßen landete.
Zeit.
Mehr Fragmente, Scherben, Bruchstücke … Zeit.
Epiphanie in Schwärze & Licht, Szenario in Grün, Gold, Purpur & Grau …
Da ist ein Mann. Er klettert in der dunstigen, abendlichen Luft, er besteigt den hohen Turm von Cheslerei in einer Stadt namens Ardel, neben einem Meer, dessen Namen er bisher noch nicht einmal richtig aussprechen kann. Das Meer selbst ist dunkel und dickflüssig wie Johannisbeersaft, das Licht von Canis Vibesper spiegelt sich darin wieder, der Sonne, die gerade eben unter dem Horizont versunken ist, um nun einem anderen Kontinent Licht und Wärme zu spenden. Eine sanfte Brise streicht über die Bauwerke, Balkone, Türme, Wälle und Häuser der Stadt, sie trägt die Gerüche des Festlandes hinaus zu seinem älteren, kälteren Gefährten …
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