„So war es“, sagte ich.
„Oh. Sie haben keinen Schock oder so etwas davongetragen, nicht wahr?“
„Nein, aber ich habe meinen Dollar bekommen.“
„Das ist gut.“ Er seufzte. „Schön, daß wir keinen Unfallbericht schreiben müssen. Trotzdem, was ist denn nun genau geschehen?“
„Jemand hat mich gestoßen, dabei ist meine Tasche gerissen. Ich hatte die ganzen Morgeneinnahmen darin. Mein Chef wird mir alles vom Lohn abziehen, wenn …“
„Sehen wir einmal nach, wieviel bereits zusammengekommen ist.“
Das taten wir, und wie sich herausstellte, hatte ich siebenundneunzig Dollar zurückbekommen. Das bewirkte, daß ich ein gutes Bild von meinen Mitmenschen bekam, und ich beglückwünschte mich dazu, das Schicksalsschiff am heutigen Tag so geschickt um alle Klippen herumgesteuert zu haben. Ich hinterließ ihnen eine falsche Kontaktadresse, sollten noch weitere Scheine auftauchen, dankte ihnen mehrmals, entschuldigte mich für die Unannehmlichkeiten und ging dann hinaus.
Der Verkehr, das merkte ich sofort, floß auf den falschen, den entgegengesetzten Straßenseiten. In Ordnung. Damit konnte ich leben. Die Schilder der Geschäfte waren alle umgekehrt. Na schön, auch das ging noch an.
Ich ging zu der Bank, wo ich den Abholschein für meinen Mantel hinterlassen hatte. Schon nach wenigen Schritten blieb ich stehen. Der Weg schien richtig zu sein, also war es der falsche.
Lange stand ich da und versuchte, mir die ganze Stadt spiegelverkehrt vorzustellen. Das war schwieriger als ich zuvor angenommen hatte. Das belegte Brötchen und das Bier – nun umgekehrt – kamen mir hoch, ich kämpfte mit mir selbst, bis ich alles wieder an seinen Platz niedergerungen hatte. Ja, schon besser. Der Trick bestand einfach darin, anhand von Straßenmarkierungen zu navigieren und sich vorzustellen, man sei beim Rasieren. Wie wenn man in einen Spiegel schaut, sagte ich mir. Ich fragte mich, ob ein Zahnarzt mir gegenüber einen Vorsprung hätte oder ob seine Fähigkeiten sich lediglich auf das Innere von Mündern beschränkten. Spielte aber keine Rolle. Ich hatte meine Bank gefunden.
Ich ging hin, geriet kurz in Panik, als ich den Schein nicht finden konnte, doch dann erinnerte ich mich und ging zum anderen Ende. Ja. Genau dort …
Natürlich hatte ich den Abholschein dort zurückgelassen, damit er nicht umgekehrt wurde und ich keine Schwierigkeiten beim Abholen bekam. Und ich hatte den Mantel abgegeben, damit mein Busfahrschein nicht umgekehrt wurde, denn das hätte ebenfalls zu Ärger geführt.
Ich legte mir im Geiste die Route zurecht, dann ging ich zu dem Restaurant zurück. Ich war darauf vorbereitet, es auf der anderen Straßenseite zu finden, fummelte aber dann doch an der falschen Türseite nach der Klinke.
Das Mädchen gab mir meinen Mantel sofort, doch als ich mich zum Gehen wandte, sprach sie mich an. „Heute haben wir aber nicht den ersten April, mein Herr.“
„Wie belieben?“
Sie winkte mir mit dem Geldschein zu. Da ich kein Wechselgeld hatte, hatte ich ihr einen Dollarschein gegeben. Einen Augenblick später fiel mir ein, daß ich ihr ja den ‚normalen’ Schein gegeben hatte, den, den ich mit durch den Mobilator genommen hatte.
„Oh“, sagte ich und setzte ein rasches Grinsen auf. „Ein kleiner Partyscherz. Hier, nehmen Sie den hier.“
Ich gab ihr RALLOD NENIE wonach sie sich ebenfalls zu einem Lächeln durchrang.
„Er sieht so echt aus“, sagte sie. „Im ersten Moment konnte ich überhaupt nicht erkennen, was daran nicht stimmte.“
„Ja. Toller Spaß.“
Ich verharrte noch kurz, um mir ein Päckchen Zigaretten zu kaufen, dann machte ich mich auf die Suche nach der Bushaltestelle. Aber ich hatte noch jede Menge Zeit bis zur Abfahrt. Daher dachte ich, ein wenig antitelepathische Medizin könnte eigentlich nicht schaden. Ich betrat eine völlig unverfänglich aussehende Bar und bestellte mir ein Glas Bier.
Es schmeckte merkwürdig. Nicht schlecht, zugegeben. Einfach anders. Ich entzifferte den spiegelverkehrten Namen auf dem Etikett und fragte den Barkeeper, ob das auch wirklich der Inhalt wäre. Er sagte ja. Achselzuckend nippte ich. Es schmeckte wirklich hervorragend. Auch die Zigarette, die ich mir anzündete, schmeckte merkwürdig, was ich zuerst auf den Nachgeschmack des Bieres schob. Wenige Augenblicke später gingen mir jedoch einige halb ausgegorene Gedanken durch den Kopf; ich rief den Barkeeper und ließ mir ein Glas Bourbon bringen.
Er hatte einen reichen, rauchigen Geschmack, überhaupt nicht vergleichbar mit dem, was ich sonst immer aus Flaschen mit diesem Etikett zu trinken bekam. Von Flaschen mit anderen Etiketts ganz zu schweigen.
Plötzlich fielen mir wieder einige Details aus Organische Chemie I und II ein. Meine sämtlichen Aminosäuren, mit Ausnahme von Glycin, waren linksdrehend gewesen, entsprechend der Symmetrie meiner Proteinhelix. Dasselbe galt für die Nukleotiden, die die Windungen der Nukleinsäuren verursachten. Aber das war natürlich vor meiner Umwandlung gewesen. All meine Gedanken kreisten plötzlich um Stereoisomere und um den Nahrungskreislauf. Es ist nämlich so: Manchmal akzeptiert der Körper rechtsdrehende Substanzen, lehnt aber die linksdrehenden Komponenten ab, manchmal ist es umgekehrt. Manchmal werden auch beide Komponenten angenommen, aber dann dauert der Verdauungsprozeß bei einer Variante länger. Ich bemühte mich, mich an spezielle Beispiele zu erinnern. Mein Bier enthielt Äthylalkohol, C 2H 5OH … In Ordnung, dieses Molekül war symmetrisch. Das zentrale Kohlenstoffatom war mit zwei Wasserstoffatomen verbunden. Umgewandelt oder nicht, ich würde in beiden Fällen einen Rausch davon bekommen. Warum hatte dann alles einen anderen Geschmack? Die Aromastoffe, ja. Bei ihnen handelte es sich um asymmetrische Ester, die nun meine Geschmacksnerven ganz anders anregten. Und auch mein olfaktorischer Apparat mußte sich ab sofort mit ‚umgekehrtem’ Zigarettenrauch befassen. Ich würde zu Hause als erstes einmal ein paar wesentliche Dinge nachschlagen müssen. Da ich nicht wußte, wie lange meine Existenz als Spiegelmensch dauern würde, wollte ich mich auf keinen Fall der Gefahr einer Vergiftung aussetzen, wenn sie bestand.
Ich trank das Bier aus. Im Verlauf der sehr langen Busfahrt konnte ich mich näher mit diesem Phänomen auseinandersetzen. In der Zwischenzeit schien es mir angebracht, noch ein wenig umherzupromenieren und aufzupassen, ob ich verfolgt wurde. Ich lief die nächsten fünfzehn bis zwanzig Minuten kreuz und quer hin und her, konnte aber keinen Verfolger aufspüren.
Dann ging ich zurück zur Bushaltestelle, um meinen Stereoisobus nach Hause zu nehmen.
Schläfrig mit dem Bus durch die weite Landschaft tuckernd, ließ ich meine Gedanken durch die Straßen meines Verstandes paradieren, stocherte gelegentlich auch einmal in älteren Erinnerungen und lauschte dem Pochen der Narrentrommeln in meinen Schläfen. Ich hatte die mir übertragene Aufgabe erledigt. Aber von wem war sie mir übertragen worden? Nun, der Betreffende hatte gesagt, er sei eine Aufzeichnung, aber er hatte mich mit dem Wissen um Artikel 7224, Absatz C versorgt, als ich es benötigt hatte – und jeder, der mir in der Not beisteht, gehört automatisch zu den Guten, bis er sich eindeutig zu erkennen gibt. Ich fragte mich, ob ich mich für unseren nächsten Kontakt wieder betrinken sollte, oder ob er dieses Mal etwas anderes mit mir vorhatte. Denn selbstverständlich mußte es einen weiteren Kontakt geben. Er hatte deutlich gemacht, daß meine Zusammenarbeit in dieser Frage zu einer Klärung der gegenwärtigen Situation führen würde. Also gut, das hatte ich ihm abgekauft. Ich hatte meine Umkehrung nur auf sein Wort hin in gutem Glauben durchgeführt. Jeder andere hatte etwas verlangt, das ich nicht erfüllen konnte, und mir aber auch nicht das geringste dafür geboten.
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