So kam es, daß er mich hier fand, vielleicht eine halbe Stunde später.
Ich hatte mich schon sichtlich entspannt, hatte die turbulenten Ereignisse fast schon vergessen und erfreute mich an der Wärme und der Gemütlichkeit. Ich lauschte dem Heulen des Windes draußen, als eine vorübergehende Gestalt stehenblieb, sich umwandte und dann in dem Stuhl mir gegenüber Platz nahm.
Ich sah noch nicht einmal auf. Aus dem Augenwinkel hatte ich gesehen, daß es kein Bulle war, und ich fühlte mich davon abgesehen auch nicht in der Stimmung, um mit irgendeiner, wahrscheinlich fragwürdigen Existenz ein Gespräch anzufangen.
Fast eine halbe Minute saßen wir so da, schweigend, unbeweglich. Dann wurde etwas auf die Tischplatte geknallt, und ich sah automatisch hin.
Drei Fotos lagen vor mir, eindeutige Fotos, eine Blonde und zwei Brünette.
„Würden Sie sich nicht gerne mit so etwas aufwärmen, in einer so kalten Nacht wie heute?“ fragte eine Stimme, die meinen Verstand wachsam werden und meine Augen um fünfundvierzig Grad in die Höhe blicken ließ.
„Doktor Merimee!“ sagte ich.
„Psst!“ zischte er. „Betrachten Sie weiter die Bilder.“
Derselbe alte Trenchcoat, verschlissen und abgewetzt … Dieselbe lange Zigarettenspitze … Unglaublich scharfe Augen hinter einer Brille, bei der ich noch immer den Eindruck hatte, in ein Aquarium zu blicken. Wie viele Jahre war es schon her?
„Was, zum Teufel, machen Sie denn hier?“ fragte ich.
„Ich sammle Material für ein Buch, was denn sonst? Verdammt! Betrachten Sie die Bilder, Fred! Geben Sie vor, sie zu studieren. Na los. Ärger in Sicht. Wahrscheinlich für Sie!“
Also wandte ich meinen Blick wieder den reizenden Ladys zu.
„Was für Ärger?“ fragte ich.
„Sie scheinen verfolgt zu werden.“
„Wo ist er im Augenblick?“
„Auf der anderen Straßenseite. Dort habe ich ihn zuletzt in einem Tor stehen sehen.“
„Wie sieht er aus?“
„Kann ich nicht genau sagen. Er ist aber dem Wetter entsprechend gekleidet. Hut ins Gesicht gezogen. Kopf vornüber geneigt. Durchschnittliche Größe, mehr oder weniger. Wahrscheinlich etwas gebeugt.“
Ich kicherte.
„Totaler Durchschnittsmensch. Woher wissen Sie, daß er mir folgt?“
„Ich habe Sie schon vor Stunden gesehen, einige Bars zurück. Die, in der ich Sie gesehen habe, war ziemlich überfüllt. Gerade als ich auf Sie zugehen wollte, sind Sie gegangen. Ich habe gerufen, aber Sie haben mich in dem Lärm nicht gehört. Bis ich aufgestanden war und bezahlt hatte, waren Sie schon ein gutes Stück die Straße hinaufgegangen. Ich wollte hinter Ihnen hergehen, da sah ich diesen Burschen, der aus einer Toreinfahrt herauskam und das ebenfalls tat. Zuerst dachte ich mir nichts dabei, aber Sie sind eine Weile herumgelaufen, und er ist allen Ihren Schritten gefolgt. Als Sie in die nächste Bar gegangen waren, blieb er einfach stehen, starrte sie an und verschwand dann wieder unter einem Torbogen. Er zündete eine Zigarre an, hustete mehrere Male, dann wartete er, immer die Bar im Auge behaltend. Daher ging ich weiter bis an die Ecke. Dort war eine Telefonzelle, ich ging hinein und gab vor zu telefonieren, während ich ihn beobachtete. Sie blieben nicht besonders lange dort, und als Sie herauskamen und weitergingen, tat er dasselbe. Ich folgte euch beiden noch zwei Bars weiter, um ganz sicherzugehen. Nun bin ich überzeugt. Sie werden verfolgt oder zumindest beobachtet.“
„Na schön“, sagte ich. „Ich glaube Ihnen.“
„Ihr ruhiges Akzeptieren dieser Situation bringt mich zu der Überzeugung, daß sie nicht vollkommen unerwartet kommt.“
„Genau.“
„Kann ich irgend etwas tun, um Ihnen zu helfen?“
„Nichts, was die Ursache der Schwierigkeiten angeht. Aber vielleicht etwas, um die gegenwärtige Situation zu bereinigen …“
„Etwa, Sie hier wegzubringen, ohne daß der dort draußen es bemerkt?“
„Daran hatte ich beispielsweise gedacht.“
Er gestikulierte mit einer bandagierten Hand.
„Kein Problem. Lassen Sie sich Zeit mit Ihrem Getränk. Entspannen Sie sich. Betrachten Sie alles als gelaufen. Geben Sie weiter vor, meine Bilder zu studieren.“
„Warum?“
„Warum nicht?“
„Was ist denn mit Ihrer Hand passiert?“
„Ein bedauerlicher Unfall. Mit einem Fleischermesser. Hat man Sie inzwischen graduieren lassen?“
„Nein. Sie bemühen sich noch immer darum.“
Ein Kellner kam vorbei, stellte ein Glas vor ihn, legte eine Serviette daneben, warf einen Blick auf die Fotos, blinzelte mir zu und verschwand dann wieder hinter der Theke.
„Ich dachte, ich hätte Sie in Geschichte umzingelt gehabt, als ich ging“, sagte er, hob sein Glas, nippte, wischte sich die Lippen ab, nippte wieder. „Was geschah?“
„Ich entkam in die Archäologie.“
„Zweifelhaft. Sie hatten bereits zuviel Anthropologie und Frühgeschichte, um damit lange durchkommen zu können.“
„Richtig. Aber ich hatte das kommende Semester über meine Ruhe, und mehr wollte ich nicht. Im Herbst starteten sie dann Geologie Vorlesungen. Die belegte ich eineinhalb Jahre lang, in der Zwischenzeit hatten sich dann neue Möglichkeiten aufgetan.“
Er schüttelte den Kopf. „Wie absurd“, sagte er.
„Vielen Dank.“
Ich schluckte trocken.
Er räusperte sich.
„Wie ernst ist die Situation denn?“
„Ich würde sagen, ernst genug – wenn sie auch auf einem Mißverständnis basiert.“
„Ich meine, haben die Behörden ihre Hände im Spiel oder nur Privatleute?“
„Beides, wie es scheint. Warum? Haben Sie noch andere Einfälle, wie Sie mir helfen können?“
„Nein, natürlich nicht! Ich versuchte nur, mir über Ihre Gegner Klarheit zu verschaffen.“
„Tut mir leid“, sagte ich. „Ich schätze, ich schulde Ihnen einiges für das Risiko, das Sie eingehen …“
Er hob eine Hand, um mich zum Schweigen zu bringen, aber ich sprach trotzdem weiter.
„Ich habe keine Ahnung, wer das dort draußen ist. Aber wenigstens einige der Personen, die in die Angelegenheit verwickelt sind, scheinen gefährlich zu sein.“
„Schon gut, das genügt“, sagte er. „Ich bin, wie immer, ausschließlich allein für meine Handlungen verantwortlich, und ich habe mich entschlossen, Ihnen zu helfen. Genug!“
Wir tranken darauf. Er legte lächelnd die Bilder zurecht.
„Ich könnte Ihnen wirklich eine davon für heute nacht besorgen“, sagte er. „Wenn Sie wollen.“
„Danke. Aber heute nacht muß ich mich betrinken.“
„Es sind keine besonders anspruchsvollen Gespielinnen.“
„Aber nicht heute nacht.“
„Nun“, sagte er achselzuckend, „ich will Ihnen nichts aufzwingen. Sie haben lediglich meine Hochachtung errungen. Erfolg tut das meistens.“
„Erfolg?“
„Sie sind eine der wenigen erfolgreichen Personen, die ich kenne.“
„Ich? Warum?“
„Sie wissen genau, was Sie wollen, und das machen Sie auch. Und zwar gut.“
„Aber ich mache nicht besonders viel.“
„Und selbstverständlich bedeutet Ihnen die Quantität nicht viel, auch nicht die Bedeutung, die andere Ihrem Tun beimessen. In meinen Augen macht Sie das erfolgreich.“
„Weil mich nichts kümmert? Aber das stimmt nicht, das wissen Sie auch.“
„Natürlich, natürlich! Das ist lediglich eine Frage des Stils, eine Bewußtheit des eigenen …“
„In Ordnung“, sagte ich „Bewunderung erkannt und im richtigen Rahmen akzeptiert. Nun …“
„… Selbstwertes, und das macht Sie zu einer bewundernswerten Person“, sagte er. „Ich bin genauso wie Sie.“
„Natürlich. Das wußte ich schon die ganze Zeit. Wie wäre es, wenn Sie mich nun hier herausbringen würden …“
„Hier gibt es eine Küche mit einer Hintertür“, sagte er. „Am Tag transportieren sie dort ihre Waren herein. Wir werden dort hinausgehen. Der Barmann ist ein Freund von mir. Kein Problem.
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