»Wir vier können das nicht! Eine Person kann es. Ich kann es«, prahlte er. Er war zornig geworden und zeigte es. Dieser Paul! Wan betrachtete ihn mit eher gemischten Gefühlen, aber die meisten davon waren negativer Art. Wenn Paul zu Wan etwas sagte, formte er seine Worte so sorgfältig – so verächtlich. So, als glaube er nicht, dass Wan klug genug sei, um sie zu verstehen. Wenn Wan und Janine zusammen waren, hielt Paul sich stets in der Nähe auf. Sollte Paul ein Beispiel dafür sein, wie die menschlichen Männer waren, empfand Wan keinen Stolz darauf, zu ihnen zu gehören. »Ich bin oft im Gold gewesen«, rühmte er sich, »um Bücher oder Beerenfrüchte zu holen oder einfach zu beobachten, was sie für alberne Dinge treiben. Sie sind so komisch! Aber sie sind nicht völlig dumm, wisst ihr. Ich kann ungefährdet hingehen. Eine Person kann es. Vielleicht auch zwei Personen, aber wenn wir alle gehen, sehen sie uns ganz bestimmt.«
»Und dann?«, fragte Lurvy.
Wan zuckte abwehrend die Achseln. Er kannte die Antwort darauf nicht und wusste nur, dass sein Vater Angst davor gehabt hatte. »Sie sind nicht interessant«, sagte er, sich selbst widersprechend.
Janine leckte ihre Finger ab und warf die leeren Beerenfruchtschalen weg.
»Ihr seid doch wirklich die Letzten«, sagte sie seufzend. »Wan? Wo tauchen diese Alten auf?«
»Immer kommen sie dahin, wo das Gold aufhört. Manchmal betreten sie das Blaue oder Grüne.«
»Na, wenn sie diese Beerenfrüchte mögen und wenn du eine Stelle kennst, wo sie hinkommen, um sie zu pflücken, warum bauen wir da nicht einfach eine Kamera auf? Wir können sie sehen, aber sie uns nicht.«
»Natürlich!«, rief Wan triumphierend. »Siehst du, Lurvy, man braucht gar nicht hinzugehen! Janine hat Recht, nur …« Er zögerte. »Janine, was ist eine Kamera?«
Unterwegs musste Lurvy ihren ganzen Mut zusammennehmen, wenn es eine Kreuzung zu überqueren galt, und sie konnte nicht umhin, in jeden Korridor zu starren. Aber sie hörten und sahen nichts, was sich bewegt hätte. Es war so still wie in der Nahrungsfabrik, als sie diese zum ersten Mal betreten hatten, und ebenso unheimlich. Noch unheimlicher. Die Lichtadern an allen Wänden, die kleinen bepflanzten Flächen – vor allem der erschreckende Gedanke, dass irgendwo in der Nähe lebendige Hitschi sein mussten. Als sie an einem Beerenfrucht-Strauch an einer Stelle, wo Grün, Blau und Gold zusammentrafen, eine Kamera hinterlassen hatten, führte Wan sie direkt zu dem Raum, wo die Toten Menschen lebten. Das war das Wichtigste: zu dem Funk zu gelangen, der sie mit dem Rest der Welt wieder in Verbindung bringen würde. Selbst wenn der Rest der Welt nur der alte Peter war, der grollend in der Nahrungsfabrik herumwanderte. Wenn sie nicht so viel zustande brachten, sagte sich Lurvy, hatten sie hier überhaupt nichts zu suchen und sollten lieber zum Raumschiff zurückkehren und den Heimweg antreten; es hatte keinen Sinn zu erforschen, wenn sie nicht mitteilen konnten, was gefunden worden war.
Aus diesem Grund führte Wan, dessen Mut im direkten Verhältnis zur zunehmenden Entfernung von den Alten wuchs, sie durch einen grünen Tunnel, mehrere Etagen im blauen Bereich hinauf, zu einer breiten, blauen Tür.
»Mal sehen, ob das richtig funktioniert«, sagte er und trat auf ein Pedal vor der Tür. Die Tür zögerte, seufzte, öffnete sich dann knarrend, und Wan führte sie befriedigt hinein.
Dieser Raum wirkte menschlich, obschon fremdartig. Es roch sogar menschlich, ohne Zweifel deshalb, weil Wan in seinem kurzen Leben hier so viel Zeit verbracht hatte. Lurvy nahm eine von Pauls Minikameras und steckte sie auf ihre Schulter. Die kleine Maschine nahm eine achteckige Kammer mit drei der gegabelten Hitschi-Sitze – zwei davon defekt – und einer befleckten Wand mit Hitschi-Instrumenten auf. Reihen farbiger Lichter auf Vorsprüngen. Hinter der Wand hörte man kaum wahrnehmbares Klicken und Summen. Wan zeigte darauf.
»Dahinter leben die Toten Menschen«, sagte er. »Wenn ›leben‹ das richtige Wort dafür ist.« Er kicherte.
Lurvy richtete die Kamera auf die Sitze und die gerändelten Knöpfe davor, dann auf ein kuppelförmiges Klauengebilde unter der beschmierten Wand. Es war so hoch wie eine Truhe und mit weichen, etwas zusammengedrückten Zylindern versehen, also fahrbar.
»Was ist das, Wan?«
»Damit fangen mich die Toten Menschen manchmal«, murmelte er. »Sie benützen das Ding nicht sehr oft. Es ist uralt. Wenn es kaputtgeht, braucht es eine Ewigkeit, um sich wieder zu reparieren.«
Paul betrachtete die Maschine argwöhnisch und wich zurück. »Schalt deine Freunde ein, Wan!«, befahl er.
»Natürlich. Das ist nicht schwer«, prahlte Wan. »Passt genau auf, dann seht ihr, wie das gemacht wird.« Er setzte sich lässig auf den einen unbeschädigten Sessel und starrte die Steuerung stirnrunzelnd an. »Ich hole Tiny Jim«, entschied er und bediente die Anlage. Die Lämpchen an der fleckigen Wand flackerten und glühten, und Wan sagte: »Wach auf, Tiny Jim. Hier ist jemand für dich.«
Stille.
Wan machte ein finsteres Gesicht, blickte über die Schulter auf die anderen und sagte scharf: »Tiny Jim! Sprich sofort mit mir!« Er schob die Lippen vor und spuckte auf die Wand.
Lurvy begriff, woher die Flecken rührten, sagte aber nichts.
Eine müde Stimme sagte über ihren Köpfen: »Hallo, Wan.«
»Schon besser«, erklärte Wan schrill und grinste die anderen an. »Also, Tiny Jim, erzähl meinen Freunden etwas Interessantes, oder ich spuck’ dich wieder an.«
»Ich wäre froh, wenn du etwas respektvoller sein könntest«, sagte die Stimme seufzend, »aber meinetwegen. Mal sehen. Auf dem neunten Planeten des Sterns Saiph gibt es eine alte Zivilisation. Ihre Herrscher sind eine Klasse von Scheißdreckräumern, die Macht ausüben, indem sie die Exkremente nur aus den Häusern jener Bürger entfernen, die ehrlich, fleißig, klug und mit ihren Steuerzahlungen nicht im Verzug sind. An ihrem Hauptfeiertag, dem sie den Namen ›Fest des Hl. Gautama‹ gegeben haben, badet die jüngste Maid jeder Familie in Sonnenblumenöl, nimmt eine Haselnuss zwischen die Zähne und betreibt rituell …«
»Tiny Jim«, unterbrach ihn Wan, »ist das eine wahre Geschichte?«
Pause.
»In übertragenem Sinn«, erklärte Tiny Jim mürrisch.
»Du bist sehr albern«, rügte Wan den Toten Mann, »und du blamierst mich vor meinen Freunden. Pass auf. Hier sind Dorema Herter-Hall, die du Lurvy nennen wirst, und ihre Schwester Janine Herter. Und Paul. Sag guten Tag zu ihnen.«
Lange Pause.
»Sind hier andere lebende menschliche Wesen?«, fragte die Stimme endlich zweifelnd.
»Das habe ich dir doch eben gesagt.«
Wieder eine lange Pause, dann sagte die Stimme traurig: »Adieu, Wan«, und wollte nicht wieder sprechen, gleichgültig, wie laut Wan Befehle erteilte oder wie wütend er an die Wand spuckte.
»Mensch«, knurrte Paul, »ist er immer so?«
»Nein, nicht immer«, sagte Wan schrill. »Aber manchmal ist er noch schlimmer. Soll ich es bei einem anderen für euch versuchen?«
»Sind sie besser?«
»Hm, nein«, gab Wan zu. »Tiny Jim ist noch der Beste.«
Paul schloss vor Verzweiflung die Augen und öffnete sie wieder, um Lurvy anzufunkeln.
»Das ist ja großartig«, sagte er. »Weißt du, was ich langsam glaube? Ich fange an, deinem Vater Recht zu geben. Wir hätten in der Nahrungsfabrik bleiben sollen.«
Lurvy atmete tief ein.
»Das haben wir aber nicht getan«, gab sie zurück. »Wir sind hier. Sehen wir uns erst einmal achtundvierzig Stunden um, und dann … entscheiden wir.«
Lange bevor die achtundvierzig Stunden um waren, hatten sie beschlossen zu bleiben. Zumindest für einige Zeit. Es gab im Hitschi-Himmel einfach zu viele Dinge, als dass sie ihn hätten verlassen können.
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