Und überhaupt – wer konnte vermuten, was sie jetzt taten? Alle zwitscherten und zischten aufgeregt herum. Die vier größeren umringten das kleinere fünfte – das mit den blauen und gelben Markierungen auf seinen – nein, mit Sicherheit auf ihren Oberarmen. Alle fünf schenkten im Augenblick den Menschen keine Beachtung. Sie konzentrierten sich auf die Schautafeln, die eine Sternkarte zeigten, die Klara irgendwie bekannt vorkam. Eine Sterngruppe und darum ein Haufen Markierungen – hatte nicht Wan auf seinem Schirm das gleiche Muster gehabt?
»Ich hab’ Hunger«, murmelte ihr Wan gereizt ins Ohr.
»Hunger!« Klara rückte heftig von ihm aus Erstaunen und noch mehr aus Ekel ab. Hunger! Sie hatte beinahe Magenkrämpfe vor Angst und Furcht und, wie ihr auffiel, von dem merkwürdigen Geruch – halb Salmiak, halb verfaulter Baumstamm –, der von den Hitschi zu stammen schien. Außerdem musste sie auf die Toilette … und dieses Ungeheuer konnte an nichts anderes denken, als dass er Hunger hatte! »Bitte, halt die Klappe!«, fuhr sie ihn über die Schulter an und erregte damit Wans immer leicht entflammbare Wut.
»Was? Ich, die Klappe halten?«, brauste er auf. »Nein! Du hältst das Maul, blödes Weib!« Beinahe wäre er aufgestanden, kam aber nicht weiter als bis auf die Knie. Dann sank er sofort wieder auf den Boden, da einer der Hitschi aufgesehen hatte und nun auf sie zukam.
Einen Augenblick lang stand er über ihnen. Sein weiter, englippiger Mund arbeitete, als wolle er einstudieren, was er zu sagen hatte.
»Auf Hut«, formulierte er ganz deutlich und wies mit dem knochigen Arm auf den Bildschirm.
Klara schluckte das Lachen herunter, das vor Nervosität aus ihrer Kehle aufsteigen wollte. Hut auf! Vor wem? Warum?
»Auf Hut«, wiederholte er. »dass ssint die Ass-ass-s-i-inen.«
Da war also nun Klara, meine wahre Liebe. Im Verlauf einiger Wochen hatte sie den Schrecken des Schwarzen Lochs, den Schock des Verlustes von Jahrzehnten irdischen Lebens, das Elend mit Wan und das unerträgliche Trauma der Gefangennahme durch die Hitschi ertragen müssen. Und unterdessen …
Und unterdessen hatte ich meine eigenen Probleme. Ich war noch nicht erweitert worden und wusste nicht, wo sie war. Ich hörte die Warnung nicht, auf der Hut vor den Assassinen zu sein. Ich wusste damals noch gar nicht, dass die Assassinen existierten. Ich konnte nicht hinausgreifen, um sie in ihrer Angst zu trösten – nicht nur, weil ich es nicht wusste, sondern weil ich auch zu viele eigene Ängste hatte. Die schlimmste betraf nicht Klara oder die Hitschi, nicht einmal mein verrückt spielendes Albert-Einstein-Programm. Die schlimmste Angst saß in meinem Bauch.

Nichts funktionierte. Wir versuchten alles. Essie zog Alberts Fächer aus dem Ständer, aber er hatte die Kontrollen so blockiert, dass wir ohne ihn nichts ändern konnten. Essie baute ein neues Steuerprogramm auf und versuchte, es hineinzuschieben. Es ging nicht hinein. Wir riefen seinen Namen und fluchten und bettelten ihn zu erscheinen. Er tat es nicht.
Tagelang, die uns wie Wochen vorkamen, flogen wir weiter unter der Führung nicht existierender Hände meines nicht funktionierenden Datenbeschaffungssystems Albert Einstein. Und unterdessen befanden sich der verrückte Wan und die dunkle Lady meiner Träume im Raumschiff des Kapitäns, und hinter uns brodelten und siedeten die Welten auf den Höhepunkt einer Untat zu, die viel zu groß war, als dass man mit ihr fertig werden könnte. Aber auch mit ihnen beschäftigten sich unsere Gedanken nicht. Unsere Sorgen betrafen viel näher Liegendes: Nahrung, Wasser, Luft. Wir hatten zwar an Bord der Wahren Liebe Vorräte für lange Reisen, ja für noch viel längere als unsere jetzige.
Aber nicht für fünf Personen.
Wir waren nicht etwa müßig. Wir taten alles, was uns einfiel. Walthers und Yee-xing bastelten eigene Steuerprogramme zusammen, probierten sie aus, konnten aber die Blockierungen nicht überwinden. Essie tat mehr als wir alle, weil Albert ihr Produkt war und sie sich nicht eingestehen wollte, nicht konnte, dass sie geschlagen war. Überprüfen und nochmals überprüfen. Testprogramme schreiben und zusehen, wie sie leer herauskommen. Sie schlief kaum. Sie kopierte Alberts gesamtes Programm auf einen Reservefächer und versuchte es damit – immer noch in der Hoffnung, dass der Fehler irgendwo in der Mechanik lag. Aber wenn es so war, dann übertrug er sich auch auf die neue Speicherung. Dolly Walthers machte uns ohne zu murren Essen und blieb uns aus dem Weg, wenn wir dachten, wir würden eine Lösung finden (obwohl wir das nie taten), und ließ uns unsere Ideen ausspinnen, wenn wir am Boden zerstört waren (was oft geschah). Und ich hatte die härteste Aufgabe von allen. Albert war laut Essie mein Programm. Wenn er irgendjemandem antworten würde, dann mir. So saß ich also da und redete auf ihn ein. Redete eigentlich in die Luft, da ich keinerlei Beweise hatte, dass er mir zuhörte, wenn ich mit ihm diskutierte, mit ihm plauderte, ihn beim Namen rief, ihn anbrüllte oder anflehte.
Er antwortete nicht. Nicht der kleinste Luftzug.
Als wir eine Pause zum Essen machten, stand Essie hinter mir und massierte mir die Schultern. Es war zwar mein Kehlkopf, der langsam schlappmachte; trotzdem wusste ich den liebevollen Gedanken zu schätzen. »Wenigstens«, sagte sie leise, wobei sie mehr in die Luft als zu mir sprach, »wird er schon wissen, was er tut, glaube ich. Er muss doch wissen, dass unsere Vorräte begrenzt sind. Muss dafür sorgen, dass wir zurück in die Zivilisation kommen. Albert könnte uns nicht mit Absicht umkommen lassen.« Den Worten nach eine Aussage, nicht aber dem Tonfall nach.
»Da bin ich ganz sicher«, pflichtete ich mit niedergeschlagener Stimme bei, als ich meinen Teller wegschob. Dolly fragte in einer mütterlichen Art:
»Schmeckt Ihnen nicht, was ich gekocht habe?«
Essies Finger hörten mit der Massage auf und bohrten sich hinein. »Robin! Du isst nicht!«
Alle schauten mich an. Eigentlich war es komisch. Wir waren in der Mitte vom Nichts, ohne eine echte Möglichkeit, nach Hause zu kommen, und vier Leute starrten mich an, weil ich mein Abendessen nicht aß. Zu Beginn des Flugs hatte Essie natürlich über mich wie eine Glucke gewacht. Das war, ehe Albert verstummte. Jetzt merkten plötzlich alle, dass es mir nicht gut ging.
Und das war eine Tatsache. Ich ermüdete sehr schnell. In meinen Armen prickelte es, als ob sie eingeschlafen wären. Ich hatte keinen Appetit – hatte seit Tagen nicht viel gegessen. Das war ihrer Aufmerksamkeit nur entgangen, weil wir schnell etwas in uns hineinstopften, wenn wir gerade Zeit hatten. »Das hilft, die Vorräte zu verlängern.« Ich lächelte, aber niemand lächelte zurück.
»Dummer Robin« , zischte Essie und zog ihre Finger von meinen Schultern ab, um auf meiner Stirn die Temperatur zu messen. Die war aber nicht sehr hoch, weil ich, wenn niemand hinschaute, Aspirin geschluckt hatte. Ich setzte eine geduldige Miene auf.
»Es geht mir gut, Essie«, versicherte ich. Das war nicht wirklich eine Lüge – vielleicht ein bisschen Wunschdenken; aber ich war nicht sicher , dass ich krank war. »Ich nehme an, ich sollte mal untersucht werden, aber ohne Albert …«
»Dafür? Albert? Wer braucht ihn?« Ich verrenkte mir erstaunt den Hals, um Essie anzuschauen. »Dafür brauche ich nur ein medizinisches Unterprogramm«, belehrte sie mich bestimmt.
»Unterprogramm?«
Sie zerstampfte ihr Essen. »Medizinisches Programm, Rechtsprogramm, Sekretariatsprogramm – alle sind in Alberts Programm eingebaut, können aber getrennt erreicht werden. Du rufst sofort das Medizinprogramm auf!« Ich starrte sie mit offenem Mund an. Einen Augenblick lang konnte ich nicht reden, weil mein Verstand auf Hochtouren lief. »Tu, was ich sage!«, schrie sie mich an.
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