Nachdem sie sich in der Bibliothek ausreichend Gründe verschafft hatte, sich deprimiert zu fühlen, schlenderte sie auf Gateway umher, um zu sehen, was sich alles verändert hatte. Der Asteroid war viel unpersönlicher und zivilisierter geworden. Es gab jetzt viele Geschäfte. Einen Supermarkt, eine Schnellimbisskette, ein Stereotheater, einen Gesundheitsclub, hübsche neue Pensionen für Touristen und glitzernde Souvenirläden. Man konnte jetzt auf Gateway viel unternehmen. Aber Klara nicht. Am meisten reizte sie das Spielcasino in der »Spindel«, dem Ersatz für die alte »Blaue Hölle«. Aber solchen Luxus konnte sie sich nicht leisten.
Sie konnte sich eigentlich gar nichts leisten, das deprimierte sie. Als Klara noch ein junges Mädchen war, waren die Frauenzeitschriften voll mit lustigen kleinen Tricks, wie man eine Depression bekämpfte. Mach den Spülstein sauber! Ruf jemand am PV an! Wasch dir die Haare! Aber Klara hatte keinen Spülstein, und wen sollte sie auf Gateway anrufen? Nachdem sie sich zum dritten Mal die Haare gewaschen hatte, musste sie wieder an die »Blaue Hölle« denken. Ein paar kleinere Einsätze würden ihren Etat nicht zu sehr belasten, selbst wenn sie verlor, entschied sie; es würde nur bedeuten, eine Zeit lang ohne größeren Luxus zu leben …
Elfmal rollte die Kugel aus, dann war Klara pleite. Eine Gruppe von Touristen aus Gabonia verließ gerade lachend und stolpernd das Casino, als Klara hinter ihnen an der kleinen, engen Bar Dolly sitzen sah. Klara ging geradewegs auf sie zu und fragte: »Würden Sie mir ’nen Drink spendieren?«
»Na sicher«, antwortete Dolly ohne große Begeisterung und gab dem Barmann ein Zeichen.
»Und könnten Sie mir auch etwas Geld leihen?«
Dolly lachte überrascht auf. »Alles verspielt, was? Junge, Junge, da sind Sie aber an die falsche Adresse geraten! Ich könnte mir keinen Tropfen kaufen, wenn mir nicht einige der Touristen ein paar Chips zugeworfen hätten, damit sie Glück haben.« Als der Highball eintraf, teilte Dolly ihre restlichen Münzen auf und schob Klara eine Hälfte zu. »Sie könnten es bei Wan noch mal versuchen!«, schlug sie vor. »Aber er ist nicht besonders in Stimmung.«
»Das ist nicht neu«, stellte Klara fest und hoffte, dass der Whisky ihre Stimmung heben würde. Tat er aber nicht.
»Ach, noch schlimmer als sonst. Ich glaube, er sitzt bald ganz tief in der Scheiße.« Dolly hatte Schluckauf und machte große Augen.
»Was ist denn los?«, fragte Klara zögernd. Sie wusste ganz genau, dass Dolly ihr alles erzählen würde, nachdem sie sie gefragt hatte. Aber dadurch konnte sie sich für das Kleingeld revanchieren.
»Früher oder später werden sie ihn erwischen«, prophezeite Dolly und nuckelte an ihrem Drink. »Er ist so ein übler Schieber. Kommt hierher, wo er Sie doch woanders hätte absetzen können, bloß damit er seine verdammten Süßigkeiten und Kuchen kaufen kann.«
»Also, ich bin lieber hier als irgendwo anders«, sagte Klara und überlegte, ob das auch stimmte.
»Seien Sie nicht albern! Er hat es nicht Ihretwegen getan. Er hat es getan, weil er glaubt, dass er überall mit allem durchkommt. Weil er ein Schieber ist.« Trübsinnig starrte sie in ihr Glas. »Er ist sogar im Bett ein Schieber, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er vögelt wie ein Schieber. Er sieht mich dabei an, als ob er versuchte, sich an die Zahlenkombination eines Safes zu erinnern. Dann zieht er mich aus und drückt hier, bohrt da und schiebt sein Ding hin und her. Ich glaube, ich sollte eine Betriebsanleitung für ihn schreiben. So ’n Schieber!«
Wie viele Drinks Dollys kleiner Gewinn vorhielt, konnte Klara nicht sagen – auf alle Fälle mehrere. Irgendwann später erinnerte sich Dolly daran, dass sie noch Mischgebäck und Likörpralinen kaufen musste. Noch später bekam Klara, die wieder allein herumschlenderte, plötzlich Hunger. Das lag am Geruch, der von nicht weither zu kommen schien. Sie hatte immer noch etwas von Dollys Kleingeld in der Tasche. Es reichte zwar nicht für ein anständiges Essen, und eigentlich wäre es vernünftiger gewesen, zurück zu ihrer Pension zu gehen und dort die bereits bezahlte Mahlzeit einzunehmen. Aber warum sollte sie noch vernünftig sein? Außerdem kam der Duft ganz aus der Nähe. Sie ging durch eine Art Arkade aus Hitschi-Metall, bestellte irgendetwas und setzte sich so nah an die Wand, wie es möglich war. Dann pflückte sie das Sandwich mit den Fingern auseinander, um zu sehen, was sie aß. Wahrscheinlich synthetisch. Es schmeckte aber nicht so wie die Produkte aus den Nahrungsgruben oder den Meeresfarmen, die sie kannte. Gar nicht schlecht. Nicht sehr schlecht, wenigstens. Eigentlich fiel ihr zu diesem Zeitpunkt kein Gericht ein, das ihr wirklich gut geschmeckt hätte. Sie aß langsam und analysierte jeden Bissen, nicht so sehr, weil das Essen dies verdiente, sondern weil sie dadurch den nächsten Schritt aufschieben konnte, nämlich zu überlegen, was sie mit dem Rest ihres Lebens nun anfangen sollte.
Sie bemerkte eine Bewegung. Die Kellnerin fegte den Boden doppelt so sorgfältig und schaute bei jeder Bewegung über die Schulter. Die Leute hinter der Theke standen aufrechter und sprachen deutlicher. Jemand war hereingekommen.
Es war eine Frau. Groß, nicht jung, gut aussehend. Schwere lohfarbene Zöpfe hingen ihr auf den Rücken. Sie unterhielt sich freundlich, aber gebieterisch mit Angestellten und Kunden, während sie mit dem Finger unter den Regalen nach Fett suchte, die Krusten probierte, ob sie auch knusprig waren, sich vergewisserte, dass die Serviettenhalter auch gefüllt waren, und dem Lehrling die Schürze anders band.
Klara sah ihr zu. Da dämmerte ihr eine Erkenntnis, die fast in Furcht überging. Sie! Die Frau, deren Bilder sie in so vielen Berichten gesehen hatte, die in der Bibliothek über Robinette Broadhead veröffentlicht waren. S. Ya. Laworowna-Broadhead eröffnet vierundfünfzig neue CHON-Filialen am Persischen Golf. S. Ya. Laworowna-Broadhead bei der Taufe des umgebauten interstellaren Frachters. S. Ya. Laworowna-Broadhead leitet die Programmierung eines ausgebauten Datenspeichernetzes.
Obwohl das Sandwich das letzte war, das sich Klara kaufen konnte, brachte sie es nicht über sich aufzuessen. Sie schob sich mit abgewandtem Gesicht zur Tür, stopfte den Plastikteller in den Abfallbehälter und lief weg.
Jetzt blieb ihr nur noch ein einziger Platz, wohin sie gehen konnte. Als sie sah, dass Wan allein war, nahm sie das als direkte Botschaft des Schicksals, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. »Wo ist Dolly?«, fragte sie.
Er lag in einer Hängematte und kaute missmutig an einer frischen Papaya – die er für eine unglaubliche Summe gekauft haben musste, die sich Klara gar nicht vorstellen konnte. Er antwortete: »Ja, wo wohl! Das würde ich auch gern wissen! Na, die kann was erleben, wenn sie zurückkommt. Allerdings!«
»Ich habe mein Geld verloren«, log sie.
Er zuckte verächtlich mit den Schultern.
»Und«, fuhr sie fort, wobei sie die Lügen beim Reden erfand, »ich wollte Ihnen nur sagen, dass Sie auch verloren sind. Man will Ihr Schiff beschlagnahmen.«
»Beschlagnahmen!«, schrie er. »Diese Tiere! Diese Schweinehunde! O Dolly, wenn ich dich in die Finger kriege – sie muss ihnen von meinen Spezialgeräten erzählt haben!«
»Oder Sie selbst«, hielt Klara ihm brutal entgegen. »Sie haben ja den Mund so weit aufgerissen. Jetzt bleibt Ihnen nur noch eine Chance.«
»Eine Chance?«
»Vielleicht eine Chance, wenn Sie genug Verstand und Mut besitzen.«
»Verstand! Mut! Sie vergessen sich, Klara! Sie übersehen, dass ich den ersten Teil meines Lebens ganz allein …«
»Nein, ich übersehe gar nichts«, unterbrach sie ihn müde, »weil Sie das sicher gar nicht zulassen. Wichtig ist, was Sie als Nächstes machen. Ist alles gepackt? Vorräte an Bord?«
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