Krachend flog der Stuhl, auf dem Wan gesessen hatte, zu Boden, als er aufsprang. »Das ist ganz und gar nicht lustig!«, brüllte er. Zu Dollys Erstaunen zitterte er. »Mach was zu essen!«, verlangte er und stapfte vor sich hinmurmelnd zu seinem privaten Landefahrzeug.
Es war nicht ratsam, ihn auf den Arm zu nehmen. Dolly bereitete ihm das Abendessen und servierte es mit einem Lächeln, obwohl ihr nicht danach zumute war. Das Lächeln brachte ihr aber nichts ein. Seine Stimmung war übler als sonst. Er schrie sie an. »Blödes Weib! Hast du das ganze gute Essen aufgefressen, während ich nicht hingeschaut habe? Ist denn nichts Genießbares übrig?«
Dolly war den Tränen nahe. »Aber du magst doch Steak«, erwiderte sie.
»Steak! Natürlich mag ich Steak! Aber sieh doch mal, was du als Nachtisch anbringst!« Er schob Steak und Broccoli beiseite und griff nach dem Teller mit den Schokoladentropfenplätzchen. Den hielt er ihr unter die Nase, wobei die Plätzchen in alle Richtungen davonsegelten. Dolly versuchte sie einzusammeln. »Ich weiß, dass du sie nicht besonders magst, Liebling. Aber es ist kein Eis mehr da.«
Er warf ihr einen wütenden Blick zu. »So! Kein Eis mehr! Na schön! Ein Schokoladensoufflé … oder Obsttorte …«
»Wan, davon ist auch kaum noch etwas übrig. Du hast es aufgegessen.«
»Du blödes Stück! Das ist unmöglich!«
»Aber es ist fast alles weg. Außerdem ist das süße Zeug sowieso nicht gut für dich.«
»Ich hab’ dich nicht als Krankenschwester eingestellt! Wenn meine Zähne verfaulen, kaufe ich mir neue.« Er schlug ihr den Teller aus der Hand, dass die Plätzchen nur so herumflogen. »Schmeiß diesen Mist über Bord! Mir ist jetzt der Appetit vergangen!«, fuhr er sie an.
So endete eine typische Mahlzeit an den Grenzen der Galaxis. Typisch war auch, dass Dolly weinte und alles sauber machte. Er war ein schrecklicher Kerl! Und er schien es nicht einmal zu wissen.
Tatsache war aber, dass Wan sehr wohl wusste, wie er war: böse, unsozial, ausbeuterisch – die psychoanalytischen Programme hatten eine lange Liste aufgeführt. In mehr als dreihundert Sitzungen. Sechs Tage die Woche, beinahe ein Jahr lang. Am Schluss hatte er die Analyse mit einem Scherz beendet. »Ich habe eine Frage«, wandte er sich an den holographischen Analytiker, der sich ihm als fesche Frau darstellte, alt genug, um seine Mutter und jung genug, um anziehend zu sein. »Und das ist die Frage: Wie viele Psychoanalytiker braucht man, um eine Glühbirne auszuwechseln?«
Seufzend antwortete die Analytikerin: »Ach, Wan. Sie sträuben sich mal wieder. Na schön! Wie viele?«
»Nur einen«, sagte er lachend. »Aber die Glühbirne muss das Auswechseln auch wirklich wollen. Haha! Und sehen Sie – ich will nicht.«
Sie schaute ihn direkt an und schwieg eine Zeit lang. Für ihn saß sie auf einer Art von Knautschsack, mit untergeschlagenen Beinen, einem Notizblock in der einen und einem Stift in der anderen Hand. Damit schob sie die Brille hoch, die heruntergerutscht war, als sie ihn ansah. Wie alles in diesem Programm sollte auch diese Geste einem bestimmten Zweck dienen, nämlich der tröstlichen Zusicherung, dass sie schließlich auch nur ein menschliches Wesen wie er war und keine strenge Göttin. Selbstverständlich war sie kein Mensch. Es klang aber menschlich, als sie sagte: »Das ist wirklich ein uralter Witz, Wan. Was ist eine Glühbirne?«
Wan zuckte unwirsch mit den Schultern. »Das ist ein rundes Ding, das Licht abgibt«, meinte er. »Aber das ist nicht die Pointe. Ich habe keine Lust mehr, mich ändern zu lassen. Es macht mir keinen Spaß. Ich habe es von Anfang an nicht gewollt, und jetzt habe ich beschlossen, damit aufzuhören.«
Das Computerprogramm sagte besänftigend: »Das ist natürlich Ihr Recht, Wan. Was werden Sie tun?«
»Ich will hinaus und mich auf die Suche nach meinen … Ich will hier raus und mich amüsieren«, erklärte er entschlossen. »Dazu habe ich also das Recht?«
»Ja, sicher!«, stimmte sie ihm zu. »Wan? Wollen Sie mir nicht sagen, was Sie eigentlich sagen wollten, ehe Sie Ihre Meinung änderten?«
»Nein«, erwiderte er und stand auf. »Ich werde Ihnen nicht verraten, was ich vorhabe. Ich werde es stattdessen tun. Leben Sie wohl.«
»Sie wollen sich auf die Suche nach Ihrem Vater machen, nicht wahr?«, rief ihm das psychoanalytische Programm nach. Er aber gab keine Antwort. Das einzige Zeichen, dass er die Worte gehört hatte, war, dass er die Tür zuknallte, statt sie lediglich zu schließen.
Ein normales menschliches Wesen – eigentlich jedes menschliche Wesen – hätte seinem Analytiker Recht gegeben. Hätte es auch irgendwann während dreier langer Wochen seinem Reise- und Bettgenossen gegenüber zugegeben, selbst wenn es nur geschehen wäre, um jemanden zu haben, mit dem er seine wenig Erfolg versprechende Hoffnung und seine tatsächlich bestehenden Ängste teilen konnte. Wan hatte nie gelernt, seine Gefühle der Umwelt mitzuteilen, weil er nie gelernt hatte, irgendetwas zu teilen. Er war im Hitschi-Himmel aufgewachsen, ohne während der entscheidenden Lebensphase ein mitfühlendes Wesen aus Fleisch und Blut an seiner Seite zu haben. So war er der Archetyp eines Soziopathen geworden. Das grauenvolle Verlangen nach Liebe trieb ihn dazu, seinen verlorenen Vater in den Schrecken des Alls zu suchen. Diese ungestillte Sehnsucht machte es ihm unmöglich, jetzt Liebe zu empfangen oder zu geben. Seine engsten Gefährten während dieser schrecklichen zehn Jahre waren die Computerprogramme gewesen, in denen die verstorbenen Intelligenzen gespeichert waren, die man Tote Menschen nannte. Er hatte sie kopiert und mitgenommen, als er sich ein Hitschi-Raumschiff aneignete. Mit ihnen unterhielt er sich, wie er nie mit Dolly, die aus Fleisch und Blut bestand, reden würde, weil er wusste, dass sie nur Maschinen waren. Ihnen machte es nichts aus, so behandelt zu werden. Für Wan waren auch menschliche Wesen aus Fleisch und Blut nichts anderes als Maschinen – Verkaufsautomaten, könnte man sagen. Er hatte die Münze, um das, was er wollte, aus ihnen herauszuholen. Sex. Gespräch. Oder die Vorbereitung seiner Mahlzeiten oder das Saubermachen nach seinen schweinischen Angewohnheiten.
Die Hitschi entdeckten sehr früh, wie man die Intelligenz, ja sogar nahezu die gesamte Persönlichkeit eines Toten oder Sterbenden in mechanischen Systemen lagern konnte – was die Menschen erst lernten, als sie zum ersten Mal auf den so genannten Hitschi-Himmel stießen, wo Wan aufwuchs. Robin hielt das für eine unschätzbar wertvolle Erfindung. Ich sehe das anders. Aber man kann mir natürlich Voreingenommenheit vorwerfen – jemand wie ich, der von Haus aus ein mechanischer Speicher ist, braucht so etwas ja nicht. Als die Hitschi das herausgefunden hatten, gaben sie sich nicht mehr die Mühe, Leute wie mich zu erfinden.
Ihm kam niemals der Gedanke, dass ein Automat auch Gefühle haben könnte. Auch nicht, wenn der Automat ein neunzehn Jahre alter Mensch weiblichen Geschlechts war, der dankbar gewesen wäre, eine Gelegenheit zu haben, ihm Liebe zeigen zu dürfen.

In der Lofstromschlaufe in Lagos, Nigeria, machte sich Audee Walthers Gedanken über das Maß seiner Verantwortung Janie Yee-xing gegenüber, als das Magnetband ihr Landefahrzeug erfasste. Sie wurden langsamer und gingen an der Zoll- und Einwanderungsstation zu Boden. Er hatte wegen seiner Spielerei mit verbotenem Spielzeug die Chance auf einen Job vertan, Yee-xing aber hatte durch ihre Beihilfe ihre gesamte Karriere ruiniert. »Ich hab’ eine Idee«, flüsterte er ihr zu, als sie im Vorzimmer Schlange standen. »Ich erzähl’ sie dir später.«
Er hatte wirklich eine Idee, und sie war ausgesprochen gut. Diese Idee war ich.
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