Nahrung. Es gab nichts Lebendiges, das man fangen und zerreißen konnte. Es gab flache, harte, geschmacklose Klumpen von Kaubarem. Sie füllten ihren Magen und standen immer zur Verfügung. Gleichgültig, wie viel sie und ihre Genossen aßen, es gab immer noch mehr davon.
Sehen und Hören und Riechen – alles, was sie wahrnahm, war erschreckend! Es gab einen Gestank, den sie nie zuvor gerochen hatte, scharf in ihrer Nase und Angst erregend. Es war der Geruch von Lebendigem, aber sie sah das Wesen nie, zu dem er gehörte. Es gab ein Fehlen normaler Gerüche, das beinahe ebenso schlimm war. Kein Geruch nach Rehwild. Kein Geruch nach Antilope. Kein Geruch nach Katze (was diesmal ein Segen war). Kein Geruch auch nach ihrem eigenen Kot, oder kein sehr starker, weil sie keine Binsen hatten, in denen sie sich ein Nest einrichten konnten, und die Orte, wo sie sich zusammendrängten, um zu schlafen, wurden jedes Mal, wenn sie diese verließen, sauber gespült. Ihr Kind wurde dort geboren, während der Rest des Stammes sich über ihre Grunzlaute beklagte, weil man schlafen wollte. Als sie wach wurde und es hochheben wollte, um den heißen Druck in ihren Zitzen zu mindern, war es fort. Sie sah es nie wieder.
Schielauges Neugeborenes war das erste, das unmittelbar nach der Geburt verschwand. Es war nicht das letzte. Fünfzehn Jahre lang fuhr die kleine Australopithekinenfamilie fort, zu essen und sich zu paaren, Kinder zu gebären und alt zu werden, und ihre Zahl schrumpfte, weil die Kinder sofort nach der Geburt weggenommen wurden. Eines der Weibchen kauerte sich nieder und presste und wimmerte und gebar. Dann schliefen sie alle ein und erwachten, um festzustellen, dass das Kleine verschwunden war. Von Zeit zu Zeit starb ein Erwachsenes oder war dem Ende so nah, dass es zusammengerollt und stöhnend am Boden lag, sodass sie wussten, es würde sich nie mehr erheben. Auch dann schliefen sie wieder alle, und dieses Erwachsene oder die Leiche davon war verschwunden, sobald sie wach wurden. Sie waren dreißig, dann zwanzig, dann zehn – dann nur noch eines. Schielauge war das letzte Wesen, mit neunundzwanzig Jahren eine uralte Frau. Sie wusste, dass sie alt war. Sie wusste nicht, dass sie starb, nur, dass sich in ihrem Bauch ein grauenhafter, vernichtender Schmerz breit machte, der sie ächzen und schluchzen ließ. Sie wusste es nicht, als sie tot war. Sie wusste nur, dass dieser Schmerz aufhörte, dann war sie sich eines anderen Schmerzens bewusst. Nicht eigentlich Schmerzen. Fremdartigkeit. Gefühllosigkeit. Sie sah, aber sie sah seltsam flach, seltsam flackernd, in einem sonderbar verzerrten Farbenbereich. Sie war das neue Sehen nicht gewohnt und erkannte nicht, was sie sah. Sie versuchte die Augen zu bewegen, und das ging nicht. Sie versuchte Kopf oder Arme oder Beine zu bewegen und konnte es nicht, weil sie das alles nicht hatte. Sie blieb beträchtliche Zeit in diesem Zustand.
Schielauge war kein Präparat in dem Sinn, wie das lebendige, aber freigelegte Nervensystem des spröden Seesterns eines Biologen ein Präparat ist. Sie war ein Versuch.
Einen großen Erfolg stellte sie nicht dar. Der Versuch, ihre Persönlichkeit maschinell zu speichern, scheiterte nicht aus den Gründen, die frühere Experimente beendet hatten, durchgeführt an den anderen Angehörigen ihres Stammes: schlechte Anpassung der Chemie an Rezeptoren; unvollständige Informationsübertragung; falsche Verschlüsselung. Die Hitschi-Experimentatoren setzten sich der Reihe nach mit allen diesen Problemen auseinander und lösten sie. Ihr Versuch scheiterte oder gelang nur zum Teil aus einem anderen Grund. Es gab in dem Wesen, das als »Schielauge« erkennbar war, nicht genug Persönlichkeit, um diese zu erhalten. Es war keine Biographie, nicht einmal ein Tagebuch. Es war eher so etwas wie das Einzelergebnis einer Volkszählung, begleitet von Schmerz und illustriert von Angst.
Aber das war nicht das einzige Experiment, das die Hitschi betrieben.
In einem anderen Teil der ungeheuren Maschine, die in einer Entfernung von einem halben Lichtjahr die Erdsonne umkreiste, begannen die gestohlenen Säuglinge zu gedeihen. Sie führten ein Leben, das von dem Schielauges völlig verschieden war – ein Leben, gezeichnet von automatischer Pflege, heuristischen Versuchen und programmierten Herausforderungen. Die Hitschi erkannten, dass diese Australopithekinen zwar weit davon entfernt waren, intelligent zu sein, aber den Samen weiserer Nachkommen in sich trugen. Sie beschlossen, den Prozess zu beschleunigen.
In den fünfzehn Jahren zwischen dem Herausschälen der Kolonie aus ihrer prähistorischen afrikanischen Heimat und dem Tod Schielauges gab es nicht viel an Entwicklung. Die Hitschi waren nicht entmutigt. In fünfzehn Jahren erwarteten sie nicht viel. Sie hegten viel weitreichendere Pläne.
Da ihre Pläne von ihnen auch verlangten – und zwar von allen –, dass sie anderswo sein sollten, lange bevor aus den Augen eines der Nachkommen Schielauges wahre Intelligenz strahlte, trafen sie entsprechende Vorbereitungen. Sie konstruierten und programmierten das künstliche Gebilde so, dass es ewig halten würde. Sie sorgten dafür, dass es aus einem passenden Verarbeiter von Kometenmaterial mit CHON-Nahrung versorgt wurde. Diesen hatten sie schon in Betrieb genommen, um andere ihrer Einrichtungen zu versorgen, und vom Potenzial her war er langlebig. Sie konstruierten Maschinen, um die Begabungen von Nachkommen der Neugeborenen von Zeit zu Zeit zu prüfen und so oft wie nötig den Versuch zu wiederholen, ihre Persönlichkeiten zur späteren Betrachtung maschinell zu speichern – falls irgendwann jemand von ihnen zurückkommen sollte, um zu erfahren, wie das Experiment ausgegangen war. Sie hätten das angesichts ihrer anderen Pläne als höchst unwahrscheinlich eingeschätzt.
Immerhin umfassten ihre Pläne sehr viele Alternativen, die allesamt zur gleichen Zeit bestanden; denn das Ziel ihrer Pläne war ihnen sehr wichtig. Niemand von ihnen mochte jemals zurückkommen, aber vielleicht kam irgendjemand.
Da Schielauge auf keine nutzbringende Weise sich verständigen oder handeln konnte, löschten die Hitschi-Experimentatoren sparsam die affektiven Teile ihrer Speicherung und behielten sie nur als eine Art Nachschlagewerk in einem Fach, damit spätere Beobachter, welcher Art sie auch sein mochten, es zu Rate ziehen konnten. (Es war das, was Janine zu benutzen gezwungen wurde, indem sie noch einmal durchlebte, was Schielauge vor so vielen hunderttausend Jahren erlebt hatte.) Sie hinterließen bestimmte Hinweise und Daten für den Gebrauch späterer Generationen, die sie eines Tages verstehen mochten. Sie machten hinter sich Ordnung, wie sie das immer taten. Dann entfernten sie sich und überließen es dem Rest jenes Experiments, neben all ihren anderen Experimenten, weiter abzulaufen.
Achthunderttausend Jahre lang.
»Janine«, stöhnte Huai, »Janine, bist du tot?«
Sie blickte zu seinem Gesicht hinauf, zunächst unfähig, die Augen scharfzustellen, sodass er aussah wie ein verschwommener, breiter Mond, unter dem ein doppelter Kometenschweif wackelte.
»Hilf mir hoch, Huai«, schluchzte sie. »Bring mich zurück.« Von allen Träumen war das der schlimmste gewesen. Sie fühlte sich vergewaltigt, geschändet, verändert. Ihre Welt würde nie mehr dieselbe sein. Janine kannte das Wort »Australopithekin« nicht, aber sie wusste, dass das Leben, das sie eben geteilt hatte, ein tierisches gewesen war. Schlimmer als das eines Tieres, weil irgendwo in Schielauge der Funke für die Erfindung des Denkens geschwelt hatte, und damit die unerwünschte Fähigkeit, sich zu fürchten.
Janine war erschöpft und kam sich älter vor als der Älteste. Gerade erst fünfzehn geworden, war sie kein Kind mehr. Dieses Konto war überzogen. Für sie war keine Kindheit mehr übrig. An der Kammer mit den schrägen Wänden, ihrer Zelle, blieb sie stehen.
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