Die Farben passten nicht genau zueinander. Zwischen den doppelten, narrensicheren Zusatzsteuerungen war die Rosette von Bildschirmen, die ihre Kurskoordinaten hätte zeigen sollen, leer. Das war nicht verwunderlich. Erstaunlich wäre gewesen, wenn die Steuerung nach achthunderttausend Jahren immer noch funktioniert hätte.
Aber das tat sie.
Der Älteste berührte etwas unter seinen Steuerrädern, und die Lichter entwickelten auf wundersame Weise blitzschnell ein Eigenleben. Sie wurden unscharf und leuchteten wieder auf, wurden nun identisch, als die automatisierten Feineinstellungssysteme in Aktion traten. Die Schirmrosette wurde hell und zeigte ein Muster leuchtender Punkte und Linien. Die junge Frau blickte angstvoll auf die Bildschirme. Sie wusste nicht, dass sie ein Sternenfeld vor sich hatte. Sie hatte noch nie einen Stern gesehen oder von einem gehört.
Sie fühlte, was nun geschah.
Wie alle anderen im Hier. Die Eindringlinge in ihren Gefängnissen, die beinahe hundert Kinder im ganzen Gebilde, die junge Frau und der Älteste selbst fühlten es. Alle empfanden plötzlich Unbehagen, als die ewige Schwerkraft aufhörte und ersetzt wurde durch Schwerelosigkeit, untermalt von Stößen einer Pseudobeschleunigung.
Nach über einer Dreiviertelmillion Jahren langsamen Umkreisens der weit entfernten Erdsonne steuerte das künstliche Gebilde eine neue Umlaufbahn an und fegte davon.

Punkt 5:15 Uhr erschien auf dem Bettmonitor von S. Ya. Laworowna-Broadhead ein sanft glühendes grünes Licht. Es war nicht hell genug, um ihren Schlaf zu stören, aber sie hatte nur noch halb geschlafen.
»Schon gut«, sagte sie, »ich bin wach, du brauchst das Programm nicht fortzusetzen. Augenblick noch.«
»Da, Gosposcha« , erwiderte ihre Sekretärin, aber das grüne Licht blieb. Wenn keine weiteren akustischen Signale eintrafen, würde sie in einer Minute einen Summton nachschicken, ohne Rücksicht darauf, was Essie angeordnet hatte; schließlich hatte sie es so festgelegt, als sie das Programm geschrieben hatte.
In diesem Fall war es nicht nötig. Essie wurde wach und war völlig klar. An diesem Morgen fand erneut eine Operation statt, und Robin würde nicht hier sein. Da der alte Peter Herter eine Warnung gegeben hatte, bevor er in die Gehirne der gesamten Menschheit eingedrungen war, hatte man Zeit gehabt, sich vorzubereiten. Es hatte fast keine Schäden gegeben. Keine wirklichen Schäden; aber möglich geworden war das nur durch hastiges Verschieben und Umplanen, und im Verlauf dieser Bemühungen waren Robins Anschlussflüge hoffnungslos durcheinander geraten.
»Darf ich essen?«, fragte sie.
»Nein, Gosposcha Broadhead. Gar nichts, nicht einmal einen Schluck Wasser«, antwortete ihre Sekretärin sofort. »Wollen Sie Ihre Nachrichten abhören?«
»Vielleicht. Was für welche?« Wenn die auch nur entfernt von Interesse waren, wollte sie sie annehmen; alles, nur um nicht an die Operation denken zu müssen, und daran, dass sie wieder von Kathetern und Schläuchen wochenlang an dieses Bett gefesselt sein würde.
»Eine akustische Mitteilung von Ihrem Mann, Gosposcha, aber wenn Sie das möchten, glaube ich, dass ich ihn direkt erreichen kann. Ich habe eine Ortsangabe, falls er noch dort ist.«
»Tu das.« Essie schob sich versuchsweise hoch und setzte sich auf die Bettkante, während sie darauf wartete, dass die Verbindung hergestellt wurde oder, was wahrscheinlicher war, dass man ihren Mann in irgendeiner Wartehalle ausfindig machte und zu einem Hologerät rief. Sie achtete darauf, keinen der Dutzend Schläuche zu knicken, als sie aufstand. Abgesehen von ihrer Schwäche fühlte sie sich nicht schlecht. Ängstlich. Durstig. Sogar zittrig. Aber keine Schmerzen. Vielleicht hätte man alles ernster genommen, wenn es schmerzhafter gewesen wäre, und vielleicht wäre das gut gewesen. Diese Monate erniedrigender Belästigung waren nur ein Ärgernis; in Essie war genug von Anna Karenina, dass sie sich danach sehnte zu leiden . Wie banal war die ganze Welt geworden! Ihr Leben stand auf dem Spiel, und das Einzige, was sie spürte, war Unbehagen zwischen ihren Beinen.
»Gosposcha Broadhead?«
»Ja?«
Das optische Programm erschien mit bedauerndem Ausdruck.
»Ihr Mann ist im Augenblick nicht erreichbar. Er befindet sich auf dem Weg von Mexico City nach Dallas und ist eben gestartet; alle Kommunikationsanlagen der Maschine werden derzeit für die Navigation benötigt.«
»Mexico City? Dallas?« Der Arme! Er würde die ganze Erde umrunden, um zu ihr zu gelangen! »Dann gib mir wenigstens die Aufzeichnung!«, befahl sie.
»Da, Gosposcha.« Gesicht und grünes Licht verschwanden, und die Stimme ihres Ehemannes sagte: »Liebste, ich habe ein bisschen Schwierigkeiten mit den Anschlüssen. Ich hatte einen Charterflug nach Merida mit Anschluss nach Miami, aber ich habe die Maschine verpasst. Jetzt hoffe ich, nach Dallas fliegen zu können und … Jedenfalls bin ich unterwegs.« Pause. Er sprach gereizt, was kein Wunder war, und Essie sah ihn beinahe vor sich, wie er nach einer aufmunternden Bemerkung suchte. Aber es war alles nur Gerede. Etwas von der grandiosen Nachricht, die Gebetsfächer betreffend. Etwas über die Hitschi, die nicht die Hitschi waren, und … einfach Geplapper. Der Arme! Er gab sich Mühe, aber sie hörte weniger auf seine Worte als auf sein Herz, bis er wieder verstummte und dann sagte: »Ach, verdammt, Essie. Wenn ich nur dort wäre. Ich komme. So schnell ich kann. Inzwischen … pass gut auf dich auf. Falls du noch Zeit hast, bevor du, äh, bevor Wilma anfängt, habe ich Albert gebeten, alles Wesentliche für dich aufzuzeichnen. Er ist ein gutes, altes Programm …« Lange Pause. »Ich liebe dich«, sagte er und war fort.
S. Ya. ließ sich auf ihr leise summendes Bett zurücksinken und fragte sich, was sie mit der nächsten (und vielleicht letzten?) Stunde ihres Lebens anfangen sollte. Sie vermisste ihren Mann sehr, vor allem angesichts der Tatsache, dass sie ihn in mancher Beziehung für ziemlich töricht hielt. »Gutes, altes Programm!« Wie albern von ihm, Computerprogramme anthropomorph zu sehen! Sein Albert-Einstein-Programm war, sie hatte kein anderes Wort dafür, niedlich . Und es war seine Idee gewesen, das Bioprüfgerät wie ein Haustier zu gestalten. Und ihm einen Namen zu geben. »Putzi!« Das war genauso, als hätte man einem Staubsauger oder einer Flinte einen Namen gegeben. Närrisch. Es sei denn, es kam von einem Menschen, der einem wichtig war … dann war es lieb.
Aber Maschinen blieben Maschinen. Im Institut von Akademogorsk hatte die junge S. Ya. Laworowna sehr gründlich gelernt, dass Maschinenintelligenz nichts »Persönliches« war. Man baute sie zusammen, von Addiermaschinen bis zu Zahlenzerhackern. Man stopfte sie voll mit Daten. Man konstruierte für sie einen Speicher mit passenden Reaktionen auf Reize und stattete sie mit einer hierarchischen Skala von Angemessenheit aus; und das war auch schon alles. Ab und zu wurde man von dem überrascht, was aus einem Programm wurde, das man selbst geschrieben hatte, gewiss. Natürlich kam das vor; das gehörte dazu. Nichts davon deutete auf das Vorhandensein freien Willens aufseiten der Maschine oder auf Persönlichkeitsstrukturen hin.
Trotzdem war es rührend zu sehen, wie er mit seinen Programmen Späße machte. Er war ein rührender Mann, weil er in mancher Beziehung sehr dem einzigen anderen Mann in ihrem Leben glich, der ihr jemals etwas bedeutet hatte: ihrem Vater.
Als Semya Yagrodna ein kleines Mädchen gewesen war, hatte sich alles um ihren Vater gedreht – um diesen hoch gewachsenen, hageren alten Mann, der Ukulele und Mandoline spielte und im Gymnasium Biologie lehrte. Er genoss es zutiefst, ein kluges und wissbegieriges Kind zu haben. Es hätte ihm vielleicht noch mehr Freude gemacht, wenn ihre Begabung sie zu den Bio-Wissenschaften gezogen hätte statt zu Physik und Technik, aber trotzdem war sie sein Ein und Alles. Er brachte ihr bei, wie es auf der Welt zuging, als er ihr keine Mathematik mehr beibringen konnte, weil sie ihn überflügelt hatte. »Du musst dir klar sein, womit du es zu tun bekommst«, hatte er ihr erklärt. »Selbst hier. Selbst jetzt. Selbst als ich zu Stalins Zeiten ein kleiner Junge war und die Frauenbewegung die Mädchen dazu bewog, MG-Kommandos zu leiten und Traktoren zu steuern. Es ist immer dasselbe, Semya. Es ist eine geschichtliche Tatsache, dass die Mathematik etwas für Jungen ist und dass Mädchen bis zum Alter von fünfzehn Jahren mit Buben auf einer Stufe stehen, manchmal auch bis zwanzig. Und dann, gerade wenn aus den Buben Lowatschewskis und Fermats werden, hören die Mädchen auf. Warum? Um Kinder zu bekommen. Um zu heiraten. Um weiß der Himmel was zu tun. Das lassen wir bei dir nicht zu, Täubchen. Studier du! Lies! Lerne! Begreife! Jeden Tag, so viele Stunden, wie du musst! Und ich werde dir helfen, wo ich kann.« Das tat er; und vom achten bis zum achtzehnten Lebensjahr kam die junge Semya Yagrodna Laworowna jeden Tag von der Schule heim, stellte eine Büchertasche in eine Ecke ihrer Wohnung und griff nach einer anderen, um zu dem alten gelben Haus am Newski-Prospekt zu traben, wo ihr Hauslehrer wohnte. Sie hatte die Mathematik nie aufgegeben, und dafür konnte sie ihrem Vater danken. Sie hatte auch nie das Tanzen gelernt oder tausenderlei Düfte und Schminken ausprobiert oder sich mit jungen Männern getroffen – nicht, bis sie nach Akademogorsk kam, und auch dafür musste sie ihrem Vater danken. Wo die Welt versuchte, sie in eine weibliche Rolle zu drängen, verteidigte er sie wie ein Tiger. Aber zu Hause musste gekocht und genäht werden, und man musste die Rosenholzstühle polieren, und nichts davon machte er. Ihr Vater hatte äußerlich nicht die geringste Ähnlichkeit mit Robin Broadhead besessen … aber in anderer Beziehung war er ganz wie er gewesen!
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