»Und Rocha?«, fragte Torr schroff. »Willst du sie um deines Traums willen in den Tod schicken?«
Ejan schüttelte verblüfft den Kopf. »Wenn Osa noch am Leben wäre, würde er mit mir kommen.« Er schlug auf die Rindenhülle von Torrs neuem Kanu. »Zwei Kanus sind besser als eins. Wenn das Osas Kanu wäre, würde er es an meinem vertäuen, und wir würden Seite an Seite übers Meer fahren, bis…«
»Bis ihr beide ertrunken seid!«, rief Torr. »Ich bin nicht Osa. Und das ist auch nicht sein Kanu.« Erschrocken sah Ejan den Ausdruck von Zorn, Frustration und Angst in seinem Gesicht. »Ejan, wenn wir dich auch noch verlieren…«
»Komm mit mir«, sagte Ejan gleichmütig. »Mach dein Kanu an meinem fest. Gemeinsam werden wir das Meer bezwingen.«
Torr schüttelte heftig den Kopf und vermied es, Ejan in die Augen zu schauen.
Traurig wandte Ejan sich zum Gehen.
»Warte«, sagte Torr leise. »Ich werde nicht mit dir gehen. Aber du kannst mein Kanu haben. Es wird neben deinem fahren. Mein Körper wird hier bleiben und Wurzeln ausgraben.« Nun lächelte er sehnsüchtig. »Aber meine Seele wird dich im Kanu begleiten.«
»Bruder…«
»Komm einfach zurück.«
Dass er auch über Torrs Kanu verfügen durfte, brachte Ejan auf eine Idee.
Das zweite Kanu wäre unbemannt und stattdessen mit Proviant und Ausrüstung beladen. Das bedeutete, dass es leichter wäre als Ejans, und deshalb wäre es unter dem Kriterium der Stabilität auch keine gute Lösung gewesen, die beiden Kanus aneinanderzukoppeln.
Nach ein paar Überlegungen und Versuchen verband Ejan Torrs robustes Rindenkanu über zwei lange Querbalken mit seinem. Durch diese Anordnung wurden die beiden Kanus durch einen offenen Holzrahmen miteinander verbunden, sodass daraus praktisch ein Floß mit den Kanus als Schwimmer resultierte.
Je mehr das Konzept Gestalt annahm, desto begeisterter war er von der Idee. Vielleicht vermochte er mit dieser Neuerung die besten Merkmale der beiden Konstruktionen zu vereinigen. Die Ruderer und ihre Ausrüstung wären sicher im Einbaum untergebracht, anstatt ungeschützt auf einem Floß zu sitzen, und das zweite Kanu würde ihnen zugleich die Stabilität einer großen Floßplattform verleihen.
Mit Rocha erprobte er die neue Konstruktion im Fluss und in den küstennahen Gewässern auf ihre Seetüchtigkeit. Das Doppelrumpf-Design erwies sich zwar als schwerfälliger als ein einzelnes Kanu, war aber weitaus stabiler. Obwohl sie weiter aufs Meer hinausfuhren als beim ersten Versuch mit dem Einbaum, kenterten sie kein einziges Mal. Und weil sie im Gegensatz zum Einbaum nicht ständig Kraft darauf verwenden mussten, den Katamaran aufrecht zu halten, war die Fahrt auch nicht annähernd so anstrengend.
Schließlich hatte Ejan das Gefühl, bereit zu sein.
Er versuchte ein letztes Mal, Rocha davon abzuhalten, ihn zu begleiten. Aber er sah in Rochas Augen eine Art von Rastlosigkeit, eine felsenfeste Entschlossenheit, sich dieser großen Herausforderung zu stellen. Wie Ejan hatte auch ihr Name eine lange Tradition; vielleicht hatte es in der Linie der Rochas schon einmal einen kühnen Entdecker gegeben.
Sie beluden die Kanus mit Vorräten – Pökelfleisch und Wurzeln, Wasser, Muscheln und Lederbeutel zum Lenzen, Waffen und Werkzeuge, auch ein Bündel Feuerholz. Sie versuchten, sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten, denn sie hatten nicht die geringste Ahnung, was sie an jenen grünen Gestaden im Süden antreffen würden.
Als sie diesmal aufbrachen, wurden sie nicht feierlich verabschiedet. Die Leute drehten sich vielmehr weg und gingen ihren Verrichtungen nach. Nicht einmal Torr schaute dem Doppelkanu nach, als es die Flussmündung verließ. Ejan ging diese demonstrative Missbilligung an die Nieren, und nicht einmal die Art und Weise, wie das Boot mit sanftem, beruhigendem Schaukeln zuverlässig durchs Wasser pflügte, vermochte ihn darüber hinwegzutrösten.
Diese kleine Expedition war jedoch der Anfang eines großen Abenteuers.
Auf der ganzen Halbinsel wurde Ejans Ausleger-Design unabhängig voneinander in die Praxis umgesetzt. An manchen Orten ging die Konstruktion wie bei Ejan aus Doppel-Kanus hervor, wobei der Schwimmer des Auslegers ein stilisiertes zweites Kanu war. Andernorts glich die Konstruktion einem gewölbten Floß. An wieder anderen Orten experimentierten die Leute mit simplen Stangen, die sie an den Dollborden der Kanus verlaschten, um die Schwimmeigenschaften zu verbessern. Aus verschiedenen Ansätzen ging die Ausleger-Konstruktion als einheitliche Lösung für die Instabilität hervor, derentwegen die Kanus bisher auf die Flüsse beschränkt gewesen waren.
Und in späteren Generationen sollten die Nachkommen dieser Leute in ihren Ausleger-Booten sich über Austral-Asien, den indischen Ozean und Ozeanien ausbreiten. Im Westen kamen sie bis nach Madagaskar an der afrikanischen Küste, im Osten über den Pazifik bis zu den Osterinseln, im Norden bis nach Taiwan an der chinesischen Küste und im Süden bis nach Neuseeland. Und überallhin nahmen sie ihre Sprache und Kultur mit.
Zu guter Letzt würden die Kinder dieser Fluss-Leute mehr als zweihundertsechzig Grad des Erdumfangs abfahren.
Die Überquerung der Meerenge zum neuen Land verlief ohne Probleme und war im Vergleich zu den bisherigen Unternehmungen geradezu ein Kinderspiel.
Ejan und Rocha folgten einer unbekannten Küste. Dann kamen sie zu einer Stelle, wo sie einen Wasserlauf sahen, der aus der üppigen Vegetation des Binnenlands brach. Das musste Süßwasser sein. Sie nahmen mit dem Katamaran Kurs auf die Küste und legten sich in die Riemen, bis der Bug der Kanus sich in den ansteigenden Meeresboden grub. Sie waren an einem Strand gelandet, der von einem dichten, undurchdringlichen Wald gesäumt wurde.
»Ich zuerst, ich zuerst!«, rief Rocha und sprang aus dem Einbaum – oder versuchte es zumindest. Nach der langen Zeit auf See knickten die Beine ein, und sie rutschte aus und fiel lachend rückwärts ins Wasser.
Das war keine sehr feierliche Landung. Niemand hielt eine Rede oder hisste eine Flagge. Und es wurde auch kein Denkmal errichtet; vielmehr sollte dieser Landeplatz nach dreißigtausend Jahren im ansteigenden Meer versinken. Trotzdem war es ein historischer Moment. Rocha war nämlich der erste Hominide, der australischen Boden betrat; der erste, der einen Fuß auf diesen Kontinent setzte.
Ejan ließ beim Aussteigen mehr Vorsicht walten. Dann standen sie knietief im warmen Küstengewässer und zogen die Kanus an den Strand.
Rocha rannte zum Süßwasserlauf. Sie stürzte sich hinein und aalte sich darin, trank ein paar Schlucke und säuberte sich. »Bäh, ich bin ganz mit Salz verkrustet…« Dann lief sie in jugendlichem Überschwang aus dem Fluss in den Wald und suchte Frischobst.
Ejan löschte erst einmal mit dem kühlen, frischen Wasser den Durst und tauchte den Kopf unter. Dann ging er mit zitternden Knien den Strand hinauf und unterzog den Dschungel einer Musterung. Er erkannte Mangroven und Palmen – es war fast so wie zu Hause. Er fragte sich, wie weit diese neue Insel sich wohl erstreckte. Und er fragte sich, ob es hier auch Leute gab…
Rocha quiekte leise. Er lief zu ihr.
Im Dickicht rührte sich etwas. Es war groß, bewegte sich aber fast lautlos. Es hatte die schreckliche, stille Aura eines Reptils, die bei ihnen eine kreatürliche Angst hervorrief. Und nun glitt das Ding aus dem Unterholz. Es war eine Schlange, wie Ejan auf den ersten Blick sah, aber eine Schlange von einer Größe, wie er sie nie zuvor gesehen hatte. Sie durchmaß mindestens einen Schritt und war sieben oder acht Schritte lang. Bruder und Schwester packten sich gegenseitig und rannten aus dem Wald auf den Strand zurück.
»Bestien«, wisperte Rocha. »Wir sind in ein Land mit riesigen Bestien gekommen.«
Schnaufend und schwitzend schauten sie sich in die Augen. Und dann schlug die Angst in Überschwang um, und sie brachen in Gelächter aus.
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