Wir gehen ins Dorf zurück, und ich hätte nichts dagegen, wenn wir uns ins Lodgingzimmer verziehen würden. Aber Lketinga wendet lachend ein: „Hier ist Maralal, nicht Mombasa.“ Anscheinend gehen Mann und Frau nicht zusammen ins Zimmer, bevor es dunkel ist, und selbst dann noch möglichst unauffällig. Nicht, daß ich mich so sehr nach Sex sehne, ich weiß ja, wie er abläuft, aber etwas Nähe nach all den Monaten könnte ich gut vertragen.
Wir schlendern durch Maralal, wobei ich etwas Abstand halte, da sich dies anscheinend gehört. Ab und zu spricht er mit einigen Kriegern oder Mädchen.
Während mich die Mädchen, alle sehr jung und schön geschmückt, nur schnell mit einem neugierigen Blick streifen und dann verlegen kichern, starren mich die Krieger länger an. Es wird geredet, wohl meistens über mich. Mir ist das etwas unangenehm, da ich nicht deuten kann, was hier abläuft. Ich kann es kaum erwarten, daß es endlich Abend wird.
Auf dem Markt kauft Lketinga sich ein Plastikbeutelchen mit rotem Farbpulver. Er zeigt dabei auf seine Haare und seine Kriegsbemalung. An einem anderen Stand verkauft jemand grüne Stengelchen mit Blättern daran. Sie sind zusammengebunden zu Bündeln von etwa zwanzig Zentimetern Länge. Hier herrscht richtiges Gezänk zwischen fünf oder sechs Männern, die das Zeug begutachten.
Auch Lketinga steuert auf diesen Stand zu. Schon nimmt der Verkäufer Zeitungspapier und wickelt zwei Bündel ein. Lketinga zahlt einen stattlichen Preis dafür und läßt das Paket schnel unter seinem Kanga verschwinden. Auf dem Weg zum Lodging kauft er mindestens zehn Kaugummis. Erst im Zimmer frage ich nach diesem Kraut. Er strahlt mich an: „Miraa, it's very good. You eat this, no sleeping!“
Er packt alles aus, nimmt den Kaugummi in den Mund und entfernt die Blätter von den Stielen. Mit den Zähnen schält er die Rinde von den Stengeln und kaut sie zusammen mit dem Kaugummi. Fasziniert sehe ich ihm zu, wie elegant er das wiederholt mit seinen schönen, schlanken Händen. Auch ich probiere davon, spucke es aber gleich wieder aus, es schmeckt mir viel zu bitter. Ich lege mich aufs Bett, betrachte ihn, halte seine Hand und bin glücklich. Die ganze Welt könnte ich umarmen. Ich bin am Ziel. Ihn, meine große Liebe, habe ich wiedergefunden.
Morgen früh fahren wir nach Mombasa, und ein herrliches Leben wird beginnen.
Ich muß eingeschlafen sein. Als ich wieder erwache, sitzt Lketinga immer noch da und kaut und kaut. Auf dem Boden sieht es mittlerweile wüst aus. Überal liegen Blätter, abgeschälte Stengel und ausgespuckte grüne, zerkaute Klumpen. Er schaut mich mit leicht starrem Blick an und streicht mir über den Kopf: „No problem, Corinne, you tired, you sleep. Tomorrow Safari.“ „And you“, frage ich, „you not tired?“
Nein, erwidert er, vor einer so großen Reise könne er nicht schlafen, deshalb esse er Miraa.
Wie er das sagt, vermute ich, daß dieses Miraa so etwas wie „Mut antrinken“ sein muß, denn Alkohol darf ein Krieger nicht trinken. Ich verstehe, daß er Mut braucht, weil er nicht weiß, was auf uns zukommt und seine Erfahrungen in Mombasa nicht die besten waren. Hier ist seine Welt, und Mombasa ist zwar Kenia, aber eben nicht sein Stammesgebiet. Ich werde ihm schon helfen, denke ich und schlafe wieder ein.
Am nächsten Morgen müssen wir früh los, um im einzigen Bus, der nach Nyahururu fährt, noch Platz zu bekommen. Da Lketinga nicht geschlafen hat, ist dies kein Problem. Ich staune, wie fit er ist und wie spontan er ohne jegliches Gepäck, nur mit seinem Schmuck und Hüfttuch bekleidet, seinen Schlagstock in der Hand, eine so weite Reise antreten kann.
Die erste Etappe liegt vor uns. Lketinga hat das restliche Kraut verstaut und kaut nur noch auf demselben Klumpen herum. Er ist schweigsam. Überhaupt herrscht nicht die gleiche Lebhaftigkeit im Bus wie damals, als Jutta und ich hierher fuhren.
Wieder schaukelt der Bus durch tausend Schlaglöcher. Lketinga hat seinen zweiten Kanga über den Kopf gezogen, nur die Augen stechen noch hervor. So sind seine schönen Haare vor Staub geschützt. Ich halte mir ein Taschentuch vor Nase und Mund, damit ich einigermaßen atmen kann. Etwa auf halber Strecke stößt mich Lketinga an und zeigt auf einen grauen, langen Hügel. Erst beim genauen Hinsehen erkenne ich, daß dies Hunderte von Elefanten sind. Dieses Bild ist gigantisch. Soweit das Auge reicht, ziehen diese Kolosse gemütlich dahin, zwischen ihnen erkennt man Elefantenkinder. Im Bus herrscht wildes Geschnatter. Alle schauen dem Elefantenzug nach. Wie ich erfahre, sieht man so etwas nur ganz selten.
Endlich ist das erste Ziel erreicht, um die Mittagszeit sind wir in Nyaharuru. Wir gehen Chai trinken und essen einen Brotfladen. Eine halbe Stunde später fährt schon der nächste Bus nach Nairobi, wo wir gegen Abend eintreffen. Ich schlage Lketinga vor, hier zu übernachten und am Morgen den Bus nach Mombasa zu nehmen. Er wil nicht in Nairobi bleiben, die Lodgings seien viel zu teuer. Da ich ja alles finanziere, finde ich es rührend und versichere ihm, daß dies kein Problem sei.
Er meint jedoch, Nairobi sei gefährlich und es gebe viel Polizei. Obwohl wir seit sieben Uhr morgens unentwegt im Bus sitzen, will er die längste Strecke ohne Unterbrechung weiterfahren. Doch weil ich merke, wie unselbständig er sich in Nairobi bewegt, willige ich ein.
Wir gehen kurz etwas trinken und essen. Ich bin froh, daß er nun wenigstens mit mir ißt, obwohl er seinen Kanga tief ins Gesicht zieht, damit man ihn nicht erkennt.
Der Busbahnhof ist nicht weit entfernt, und wir gehen die wenigen hundert Meter zu Fuß. Hier in Nairobi schauen sogar die Einheimischen komisch hinter Lketinga her, teils belustigt, teils ehrfürchtig. Er paßt nicht in diese hektische, moderne Stadt. Als mir das bewußt wird, bin ich froh, daß es mit dem Paß nicht geklappt hat.
Endlich haben wir einen der begehrten Nachtbusse bekommen und warten auf die Weiterfahrt. Lketinga holt wieder Miraa hervor und kaut. Ich versuche mich zu entspannen, weil mein ganzer Körper schmerzt. Nur meinem Herzen geht es gut.
Nach vier Stunden, in denen ich mehr oder weniger gedöst habe, hält der Bus in Voi.
Die meisten, auch ich, steigen aus, um ihre Notdurft zu verrichten. Doch als ich das verschissene WC–Loch erspähe, warte ich lieber weitere vier Stunden. Mit zwei Flaschen Cola besteige ich den Bus. Nach einer halben Stunde geht die Reise weiter. Diesmal kann ich nicht mehr einschlafen. Wir rasen auf der schnurgeraden Strecke durch die Nacht. Ab und zu begegnen wir einem Bus, der in die andere Richtung fährt. Autos sieht man nahezu keine.
Zweimal passieren wir eine Polizeisperre. Der Bus muß anhalten, da auf der Fahrbahn Holzbalken mit langen Nägeln liegen. Dann läuft auf jeder Seite ein Polizist mit Maschinenpistole bewaffnet den Bus entlang und leuchtet mit einer Taschenlampe in jedes Gesicht. Nach fünf Minuten geht die nächtliche Fahrt weiter.
Ich weiß bald nicht mehr, wie ich sitzen sol, als ich ein Schild „245 Kilometer bis Mombasa“ erblicke. Gott sei Dank, jetzt ist es nicht mehr so weit bis nach Hause.
Lketinga hat immer noch nicht geschlafen. Offensichtlich hält dieses Miraa wirklich wach. Nur seine Augen sind unnatürlich starr, und Unterhaltung scheint er keine zu benötigen. Ich werde langsam unruhig. Schon rieche ich das Salz in der Luft, die Temperatur wird angenehmer. Von der feuchten Kälte Nairobis ist nichts mehr zu spüren.
Kurz nach fünf Uhr früh fahren wir endlich in Mombasa ein. Einige Leute steigen beim Busbahnhof aus. Ich wil auch raus, doch Lketinga hält mich zurück und erklärt, vor sechs Uhr ginge kein Bus an die Küste, wir müßten hier warten, weil es sonst zu gefährlich sei. Jetzt sind wir endlich angekommen, und aussteigen kann man immer noch nicht! Meine Blase zerreißt es fast. Ich versuche, dies Lketinga mitzuteilen.
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