An dieser Stelle würde jeder typische Vertreter des RuBiBü sagen: Das politische System bleibt, wie es ist, die Macht dreht und wendet sich und will nicht abtreten, die revolutionären Prozesse reifen und so fort. Das genau ist die Perestroika – ein Fluch für jede Macht, die sich überlebt hat. In unserem Fall ist es die Macht von Wladimir Putin.
Als Putin 2012 in den Kreml zurückkehrte, unternahm er einige Schritte, die viele Beobachter der Kategorie »Schrauben anziehen« zurechneten. Zum Beispiel wurde Verleumdung erneut ein Straftatbestand. Ich persönlich kann daran nichts Schlechtes finden. Als jemand, der selbst oft als Objekt für Verleumdungen herhalten musste, kann ich nur sagen: Man sollte niemanden verleumden, und die Strafverfolgung in Russland ist immer noch die schrecklichste Riemenpeitsche, die an unserer nationalen Wand hängen kann.
Im Juni 2012 wurden die jungen Mitglieder der Punk-Gruppe Pussy Riot Nadeshda Tolokonnikowa, Maria Alechina und Jekaterina Samuzewitsch des »böswilligen Rowdytums« schuldig gesprochen und zu zwei Jahren Haft verurteilt. Sie hatten im Altarraum des größten Moskauer Gotteshauses – der Christus-Erlöser-Kathedrale – das selbst komponierte Lied Mutter Gottes, vertreibe Putin vorgetragen. Ungeachtet der Empörung der russischen liberalen Öffentlichkeit und der riesigen Unterstützung der progressiven Kreise des Westens – die Christus-Erlöser-Kathedrale wurde sogar Pussy-Riots-Church genannt – erbarmte sich Putin nicht. Jekaterina Samuzewitsch erhielt eine Bewährungsstrafe, doch Tolokonnikowa und Alechina mussten in ein echtes Straflager.
Parallel dazu initiierte der Kreml die Verabschiedung des Gesetzes gegen »Beleidigung von Gläubigen«, das eine strafrechtliche Verantwortung für diffamierende Handlungen in Gotteshäusern und die Verunglimpfung von religiösen Kultgegenständen festschreibt. Der aktive Teil der Gesellschaft war kategorisch gegen dieses Gesetz, was seiner Billigung durch die kremlhörige Staatsduma keinerlei Abbruch tat.
Selbst die Entscheidung des Höchsten Gerichts (September 2012), die Haftstrafe der prominentesten politischen Gefangenen Russlands Chodorkowski und Platon Lebedew um zwei auf elf Jahre zu verkürzen, konnte beim RuBiBü vor diesem Hintergrund keine Begeisterungsstürme hervorrufen. Dadurch wurde die Aussicht für die beiden ehemaligen Großunternehmer auf Freilassung bereits im Frühling oder Sommer 2014 durchaus real. Dieser Meldung wollte man zunächst keinen Glauben schenken.
Wie immer in Zeiten einer Perestroika werden alle Schritte der Machthaber vom aktiven Teil der Gesellschaft missbilligt. Maßnahmen einer Liberalisierung werden als gefälscht, betrügerisch und vorübergehend abgeurteilt und Versuche, »die Schrauben anzuziehen«, als schrecklich, blutrünstig und lang anhaltend eingestuft. Schließlich gerät die Macht in Zugzwang: Jede ihrer Maßnahmen verschlechtert nur die eigene Position in den Beziehungen zur bürgerlichen Gesellschaft.
Man sollte rechtzeitig zurücktreten, und wenn man in die Situation einer typischen Perestroika gerät, darf man nicht ins Schleudern kommen und sich drehen und winden, um die »nicht existierende Zeit in die Länge zu ziehen« (wie Nadeshda Mandelstam, die legendäre Witwe des großartigen russischen Poeten Ossip Mandelstam, über ihren Zeitgenossen Leonid Breschnew sagte). Vielmehr sollten radikale Reformen von oben durchgeführt werden, die den Lauf der Ereignisse vorwegnehmen, wofür die Macht allerdings die Qualitäten eines kollektiven Prometheus aufweisen muss und kein Epimetheus sein darf.
Im selben scheußlichen und für viele unverständlichen Jahr 2012 begann die sogenannte »Sumpf-Strafsache« (Bolotnajaplatz bedeutet »Sumpfplatz«). Es war der Prozess gegen zwölf Philister, die des Versuchs einer Massenaufwiegelung und des Aufrufs zum Sturz der bestehenden Ordnung während der Massenaktionen auf dem Bolotnajaplatz am 6. Mai angeklagt waren. Zu dieser Aktion waren nach der Stille der ersten vier Monate dieses seltsamen Jahres fast 100 000 Teilnehmer zusammengekommen. Damit lag sie hinsichtlich der Stärke auf Platz zwei nach der Aktion auf dem Sacharowprospekt 2011.
Es gibt den Verdacht, dass die Mitorganisatoren der Veranstaltung, darunter Alexei Nawalny und der Anführer der »Linken Front« Sergei Udalzow, sich von vornherein nicht auf eine friedliche Demonstration beschränken wollten und eine »Meuterei« geplant hatten. Zumal diese mit der dritten Amtseinführung von Wladimir Putin am 7. Mai verknüpft war, welche der Aktion auf dem Bolotnajaplatz unmittelbar voranging. Mittlerweile ist es offensichtlich, dass die Organisatoren das Programm mit einer Störung der Amtseinführung als symbolische Geste kulminieren lassen wollten, um die Legitimität von Putins Regime im Ganzen infrage zu stellen.
Dafür waren lange im Voraus für die zornigsten unter den Aktivisten nach der formalen Beendigung der Aktion Zelte gekauft worden. Nawalny und Udalzow verletzten den vorgesehenen Ablauf dieser Versammlung, indem sie sich auf den Asphalt des Bolotnajaplatzes setzten und damit die Sondertruppen der Polizei, die die Versammelten umzingelte, zu einer Auseinandersetzung mit den Demonstranten provozierten. Die Polizisten wurden mit Steinen und Asphaltstücken beworfen, was den Grund für die nachfolgenden Beschuldigungen lieferte.
Dennoch wusste Wladimir Putin allem Anschein nach bereits am Vortag, dem 5. Mai, von den Plänen der Oppositionellen, »Radau zu machen«, denn die Telefon- und sonstigen Gespräche der potenziellen Organisatoren des »Radaus« wurden vom Geheimdienst überwacht. Besonders verärgert war WWP über die Konzeption, seine Amtseinführung zu stören, was seiner Meinung nach nicht nur jegliche juristischen, sondern auch alle moralischen Grenzen überstieg.
So wurde beschlossen, am 6. Mai eine Gruppe von gewöhnlichen Bürgern, die »Weichensteller« zu verhaften, die »Anführer des nationalen Protests« jedoch nicht anzurühren. Vorerst. Damit wollte man den gewöhnlichen Teilnehmern von Protestaktionen klar und deutlich zu verstehen geben: Ihr werdet von euren Organisatoren, diesen frühreifen Anführern, betrogen. Sie verschweigen euch ihre wirklichen, extremistischen Pläne, provozieren Gewalt und bringen euch damit unter den Schlagstock der Repressionsmaschinerie des Staates, während sie selbst sich vor der Verantwortung drücken.
Diese Entscheidung wurde auch realisiert. Der »Sumpf-Prozess« dauert bis zum heutigen Tag an, und obwohl der Staat keine überzeugenden Beweise gegen die Philister vorbringen konnte, sind immer noch zehn der zwölf Beschuldigten hinter Gittern. Wenn auch zu beobachten war, dass die Anführer der Opposition den »Sumpf-Häftlingen« ihr pflichtgemäßes Mitgefühl ausdrückten, sind sie subjektiv am Andauern des Prozesses interessiert und sogar – horribile dictu! – an maximal harten Strafen. Denn solange der Prozess andauert, bekommen die prominenten Oppositionellen ständig den Ball für neue PR-Aktionen zugespielt.
Die kompromisslosen Urteile, die natürlich die russischen Bildungsbürger empören, eignen sich hervorragend als Vorwand nicht nur zur Anprangerung der grausamen und hirnlosen Staatsführung, sondern auch für die Mobilisierung eben jener Bürger für neue massenhafte Protestaktionen, ob sie nun genehmigt sind oder nicht. Das klingt zynisch? Ja. Aber die Opposition des modernen Russland zeichnet sich durchaus nicht durch Ehrenhaftigkeit aus, dieser Illusion sollte man sich nicht hingeben. Moralisch ist sie durchaus nicht immer bereit, eine wie auch immer geartete Alternative zu Putin darzustellen.
Trübe begann auch das Jahr 2013. Alexei Nawalny wurde mit der Anschuldigung konfrontiert, der Firma Kirowles einen großen wirtschaftlichen Schaden zugefügt zu haben. Bei dieser Firma handelt es sich um einen Staatsbetrieb der Holzverarbeitung und des Handels mit Wald im Verwaltungsgebiet Kirow, einer depressiven Region im Norden von Russland. Nach Meinung der Ermittler und der Staatsanwaltschaft hatte Nawalny, ohne über eine reale Vollmacht zu verfügen, Kirowles im Jahr 2009 faktisch geleitet, als er sich zum Berater in delikaten Fragen des Kirower Gouverneurs Nikita Belych gemacht hatte, der sein persönlicher Freund und ehemaliger Vorsitzender der Partei der Liberalen »Bund Rechter Kräfte« ist. Und er holte seinen Partner, den Unternehmer Pjotr Ofizerow, zu Kirowles. Mit ihm wollte er den Holzhandel wie auch die damit verbundenen finanziellen Flüsse unter seine völlige und nicht ganz uneigennützige Kontrolle bringen.
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