Am Morgen hatten die Reisenden bereits ein gutes Stück Weges hinter sich gebracht, und da sie müde waren, beschlossen sie, im Walde Rast zu machen. Erst jetzt hatten der Scheuch und der Eiserne Holzfäller die Möglichkeit, sich ihre Befreierin genauer anzusehen. Dem Eisernen Holzfäller begann das Herz in der Brust laut zu pochen, und der Scheuch fühlte, wie seine Kräfte wuchsen. Allerdings konnte das auch davon kommen, daß der Strohmann auf dem warmen Rücken Hannibals gesessen hatte und wieder fast trocken war.
Die beiden Freunde konnten sich an Ann gar nicht satt sehen. Sie versicherten ihr ein über das andere Mal, daß sie Elli wie aus dem Gesicht geschnitten sei. »Ihr erinnert uns lebhaft an die alte glückliche Zeit«, sagten sie. Als Ann ihnen einen herzlichen Gruß von ihrer Schwester bestellte und beteuerte, daß Elli sie niemals vergessen habe, war der Holzfäller so gerührt, daß die Tränen in Strömen aus seinen Augen zu fließen begannen. Natürlich rosteten seine Kiefern sofort ein. Zum Glück hatte Tim in seinem Rucksack eine Flasche mit Öl, das er dem eisernen Mann in die Kiefern träufelte.
Faramant und Din Gior überschütteten ihre Retterin mit Dank. Wegen der schlechten Gefängniskost waren die beiden sehr abgezehrt, doch sie hielten sich wacker, scherzten und waren guter Laune. Die ganze Gesellschaft brach in ein schallendes Gelächter aus, als Faramant dem Hündchen eine grüne Brille aufsetzte, die er hinten einschnappen ließ.
Arto blickte verwundert um sich. Er konnte nicht begreifen, warum plötzlich alles grün war. Dann begann er zu knurren und nach Faramant zu schnappen. Erst als man ihm die Brille wieder abnahm, beruhigte er sich.
»Toto hat die grüne Brille gern getragen«, sagte Faramant tadelnd.
Bei der langen Fußwanderung war Din Giors wallender Bart durch und durch verstaubt. Ann klopfte mit einem Ast den Staub aus dem Bart, kämmte ihn sorgfältig und flocht aus ihm drei Zöpfe. Der Feldmarschall ließ sich diese Liebenswürdigkeit gern gefallen.
Nach einem bescheidenen Frühstück legte sich die Schar im Schatten der Sträucher nieder.
Während Tim, Din Gior und Faramant schliefen, mußte Ann unzählige Fragen des Holzfällers und des Scheuchs über sich ergehen lassen. Die beiden wollten wissen, wie es Elli gehe, wie sie lerne, ob sie schon erwachsen sei, usw. usf. Dann begannen sie Ann über den guten Riesen von der anderen Seite der Berge und über Fred auszufragen.
Erst als sie bemerkten, daß dem Mädchen die Augen zufielen und ihre Zunge sich kaum noch bewegte, hielten sie verschämt inne. Ann fiel sofort in einen tiefen Schlaf.
Den ganzen Tag wurden der Holzfäller und der Scheuch nicht müde, die beiden Schwestern zu loben. Allerdings mußte der Scheuch das Gespräch in einer recht unbequemen Lage führen, denn der Eiserne Holzfäller hatte ihn, damit er schneller trockne, mit dem Kopf nach unten an Hannibals Rücken geschnallt.
Am Abend fühlten sich unsere Freunde wie neugeboren. Zum Aufbruch war es noch zu früh. Da erinnerte sich Ann, daß sie der Mäusekönigin versprochen hatte, ihr die mechanischen Maultiere zu zeigen. Sie blies in die Pfeife, und in der Lichtung erschien Ramina mit mehreren Hofdamen.
»Guten Tag, Eure Majestät«, sagte Ann. »Ich habe Euch gerufen, damit Ihr die Tiere sehen könnt, die uns hergebracht haben. Wir nennen sie Maultiere. Sind sie nicht schön?«
Ramina bewunderte die prächtigen Rappen mit dem glänzenden Fell. »Ihr sagt, sie brauchen kein anderes Futter als Sonnenstrahlen? Das ist freilich ein Wunder!«
»Wir nennen das nicht Wunder, sondern Erfindung«, entgegnete Ann. »Echte Wunder gibt es nur in Eurem Land. Das sind die Silberschuhe Gingemas, der Zauberkasten Stellas, das magische Buch Willinas, der Silberreif Bastindas… auch die Zauberpfeife, auf deren Ruf Ihr an jedem beliebigen Ort erscheint. Das nenne ich Wunder!«
Ramina lachte:
»Für uns sind das ganz gewöhnliche Dinge. Übrigens habt Ihr lange nicht alles aufgezählt, was Ihr unsere Wunder nennt. Ja, so hat Hurrikap, der große Zaubermeister, unser Land erschaffen. Er hat unseren Tieren die Gabe der Rede verliehen, hat uns den ewigen Sommer geschenkt und diese Erde durch Berge und Wüste von der übrigen Welt abgeschieden. Dafür gebührt ihm Lob und Preis!«
»Lob und Preis!« echote die Schar der Zuhörer.
Die Maultiere begannen zu wiehern und mit den Hufen zu scharren, als wollten sie ihre Reiter zum Aufbruch mahnen.
»Wirklich fabelhafte Tiere, obwohl sie von der anderen Seite der Berge kommen!« sagte Ramina beim Abschied. »Ich wünsche euch allen eine recht gute Reise, meine Lieben, und merkt euch, falls ihr mich braucht, stehe ich euch jederzeit zur Verfügung.«
Nach diesen Worten verschwand die Königin mit ihrem Gefolge.
Unsere Reisenden kamen wohlbehalten im Violetten Lande an. Die verstreuten Marranentrupps, denen sie begegneten, wagten nicht, die achtunggebietende Schar anzugreifen. Der Holzfäller und Din Gior, die ihre schweren Keulen schwangen, und die stampfenden und zähneknirschenden Maultiere flößten ihnen Furcht ein. Bei ihrem Anblick machten die Marranen einen weiten Bogen und eilten, so schnell sie konnten, Urfin Meldung zu erstatten. Ein von Urfin ausgeschickter Soldatentrupp unter Hauptmann Klems Kommando konnte die Schar nicht einholen und kehrte unverrichteterdinge zurück.
Schließlich kam der Augenblick des langersehnten Wiedersehens.
Der Löwe, der mit fortschreitendem Alter sehr empfindlich geworden war, konnte beim Anblick seiner alten Freunde – des Scheuchs, des Holzfällers, Din Giors und Faramants – vor Rührung kein Wort hervorbringen.
»Ist es möglich, daß ich zehn Jahre geschlafen habe und erst jetzt erwacht bin?« fragte der Löwe. »Elli, Toto, seid ihr es wirklich? Unmöglich!«
Als man ihm alles erklärte, trat er an Ann heran und schmiegte sich an sie wie ein großer gutmütiger Kater. Und als das Mädchen mit seiner Schwanzquaste zu spielen begann, kollerten Tränen des Glücks aus den Augen des alten Löwen.
Die Freude, die die Zwinkerer überkam, als sie ihren Herrscher, von neuen Freunden umringt, wieder vor sich sahen, ist nicht zu beschreiben.
Sie führten einen feurigen Tanz auf, bei dem ihre violetten Kleider wallten und wirbelten, daß es Ann und Tim fast schwindlig wurde. Die drolligen Menschlein schnippten mit den Fingern und riefen voller Stolz, daß alles bei ihnen zum besten stehe und jede Unbill sie meide, weil sie sich zu Ehren der Fee des Rettenden Wassers dreimal täglich wuschen.
Auch gelobten sie, ihren Nachkommen einzuschärfen, diesen heiligen Brauch streng zu befolgen.
Die Zwinkerer waren keineswegs betrübt, als sie erfuhren, daß das Mädchen, das der Eiserne Holzfäller und der Scheuch mitgebracht hatten, nicht die Fee des Rettenden Wassers, sondern deren Schwesterchen sei. Sie nannten sie kurzweg die Fee des Künftigen Sieges und führten sie zu Fregosa, der Köchin.
Die gute Frau brachte Ann ins Badezimmer, wo sie sie wusch und ihr das violette Kleid anzog, das Elli im Violetten Palast zurückgelassen hatte. Nach Ann nahm Fregosa sich Tim und Arto vor.
Der Scheuch und der Eiserne Holzfäller wurden einer Generalüberholung unterzogen.
Da man es nicht wagte, das kostbare Gehirn des Scheuchs herauszunehmen, hängte man seinen Kopf, ganz wie er war, zum Trocknen auf. Seine Kleider wurden gewaschen, geplättet und mit frischem Stroh ausgestopft und die Stiefel blankgeputzt.
Einen herben Wiesengeruch ausströmend, trat der Scheuch vor Ann. Da seine Gesichtszüge ganz verschwommen waren, ließ sich das Mädchen Pinsel und Farbe bringen und malte ihm Augen, Nase und Mund auf. Noch ehe sie damit fertig war, begann der Strohmann laut zu singen:
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