»Teilt unsere Freude, Majestät!« sagte Ann. »Die tückische Arachna ist tot, um ihre Niederlage aber hat sich auch das Mäusevolk verdient gemacht!«
Das Mädchen nahm die hocherfreute Königin auf die Hand, und der Teppich hob beide auf den Rücken von Karfax. Beim Abflug sah das Mädchen noch, wie die frohe Schar ihrer Gefährten den Rückweg antrat.
DAS ENDE DES GELBEN NEBELS
Ann blickte Karfax so lange nach, bis er sich in einen kleinen Punkt verwandelte und am fernen Himmel verschwand. Ramina nahm Abschied von dem Mädchen, bevor sie die Rückreise zu ihrem Volk antrat, das sie in das seit alters bewohnte Smaragdenland zurückführen wollte.
Bebenden Herzens betrat Ann die Höhle Arachnas und blieb wie versteinert stehen, als sie eine Menge winziger Menschlein gewahrte.
Da waren Greise mit grauen Bärten, die zu ihr hinaufschauten, säuberlich gekleidete alte Frauen mit weißen Hauben und gestickten Schürzen, Mädchen und Jungen und ganz kleine Kinder mit schönen, aber für sie viel zu großen Spielsachen in den Händen.
Die Zwerge traten zurück, und aus ihrer Schar löste sich ein ehrwürdiger Greis mit roter Zipfelmütze. Es war Kastaglio, der Chronist und Älteste des Zwergenvolkes.
»Guten Tag, liebe Ann!« sagte er, sich verbeugend.
»Ihr kennt meinen Namen?« wunderte sich das Mädchen.
»Wir wissen über alles Bescheid, was euch angeht, Boten von der Smaragdeninsel und Gäste von jenseits der Berge«, erwiderte Kastaglio bedächtig. »Wir haben viele Nächte lauschend unter eurem Wohnwagen verbracht, um die Pläne eures Feldzuges zu erfahren.«
»Und die habt ihr natürlich Arachna mitgeteilt!« schrie das Mädchen zornig.
»Mitnichten«, entgegnete ruhig der Zwerg. »Wir haben Neu-tra-li-tät bewahrt, wie Euer Freund, der Weise Scheuch, sich auszudrücken beliebt. Ich will es Euch erklären: In uralten Zeiten war über unser Volk ein Bann verhängt worden, Arachna zu dienen, uns ihr in allem zu unterwerfen und nichts tun, was ihr hätte schaden können. Doch dieser Bann enthielt nicht die Verpflichtung, gegen ihre Feinde zu kämpfen«, lächelte der Alte verschmitzt, »und deshalb haben wir gegen euch auch nicht gekämpft.«
Überrascht über die Schlauheit der Zwerge, fragte Ann:
»Warum habt ihr euch aber so lange vor uns verborgen?«
»Weil ihr verlangt hättet, daß wir euch unterstützen, was wir nicht tun durften. Jetzt aber, wo Arachna tot und der Bann gebrochen ist, stehen wir ganz zu eurer Verfügung.«
»Wie, ihr wißt schon, daß die Hexe tot ist?« staunte Ann wiederum.
»Sind euch in den Bergen auf dem Wege zu Arachnas Höhle die grauen kleinen Pfähle nicht aufgefallen?« fragte lächelnd Kastaglio.
»Ich habe sie gesehen, ihnen aber keine Beachtung geschenkt, weil ich dachte, es seien gewöhnliche Steine.«
»Nein, das waren Zwerge, die sich von Kopf bis Fuß in graue Decken gehüllt hatten. Oh, wir sind Meister der Tarnkunst!«

»Ja, das muß man wohl sagen«, sagte das Mädchen.
»Und als Arachna im Kampfe fiel, ging die freudige Nachricht von Posten zu Posten, schneller als über die Vogelstafette.«
»Wer hätte das geahnt? Nun, ich kann mich nur freuen, daß ihr im Kampf der Hexe gegen uns Neutra…lität«, Ann konnte das Wort kaum aussprechen, »bewahrt habt. Ich kann mir vorstellen, wie viele Scherereien ihr uns hättet bereiten können!«
»Nicht der Rede wert!« sagte Kastaglio stolz. »Aber laßt uns zur Sache kommen. Ich nehme an, daß ihr nach dem Sieg über Arachna ihr Zauberbuch suchen werdet, um ihren bösen Hexenkünsten ein Ende zu machen, stimmt’s?«
»Ihr habt recht, liebes Großväterchen!«
»Schön, dann will ich euch gleich das Versteck zeigen, in dem die Herrin das Buch aufbewahrte.«
Das Versteck befand sich im entferntesten und dunkelsten Winkel der Höhle. Es bestand aus einem Gelaß in der Wand, das ein flacher Stein bedeckte, den man vom Felsen nicht unterscheiden konnte. Die Knöpfe, welche die geheimen Federn des Verschlusses in Bewegung setzten, hätte ohne Hilfe des Zwergs niemand gefunden.
Als der Deckstein sich auftat, ergriff Ann hastig das dicke pergamentene Buch, dessen Deckel von der Zeit rostfarben geworden waren.
»Habt Dank, herzlichen Dank, liebes Großväterchen!« rief Ann stürmisch. »Wie seid Ihr denn daraufgekommen, wo die Hexe das Buch aufbewahrte?«
»Hab ich euch nicht gesagt, daß unseren Augen nichts verborgen bleibt? Das Komischste an der Sache war, daß die Herrin in der unerschütterlichen Überzeugung lebte, nur sie kenne das Versteck.«
Der Alte kicherte und mit ihm alle anderen Zwerge.
»Ich danke euch, Freunde, aber aufrichtig gesagt, möchte ich nicht häusliche Spione haben, wie ihr es seid«, sagte Ann lachend.
Darauf lachten die Zwerge noch stärker.
Wenige Stunden später traf der Trupp Charlie Blacks aus den Bergen ein. Man kann sich vorstellen, wie groß die Freude der Ankömmlinge war, als sie in den Händen des Mädchens das Buch sahen, um das sie so schwer hatten kämpfen müssen. Hätte man das Buch nicht gefunden, wären alle ihre Mühen umsonst gewesen und das Zauberland hätte daran glauben müssen.
Mitten in dieser allgemeinen Freude, als man sich gegenseitig die Hände schüttelte und auf die Schultern klopfte, kroch aus einem unbemerkten Versteck Ruf Bilan hervor.
Das Gesicht des Verräters war grau vor Scham und Entsetzen. Er verbeugte sich unterwürfig vor dem Scheuch und dem Riesen von jenseits der Berge und bat sie, ihn für seinen neuen Verrat nicht allzu hart zu bestrafen.
»Ich bin unschuldig«, stammelte er. »Als ich aus dem langen Schlaf in der Höhle erwachte, begann mich einer der unterirdischen Erzgräber zu erziehen, doch ehe ich etwas lernte…«
»Haben dich die Zwerge geholt, die Arachna nach dir geschickt hatte«, fiel ihm der Scheuch ins Wort. »Das alles ist uns bekannt, wir wissen, daß du in die Hände der Hexe fielst, als man aus dir noch etwas Ordentliches machen konnte. Das mildert deine Schuld«, fügte der gerechte Herrscher hinzu.
Bilan warf sich vor ihm auf die Knie.
»Ihr schenkt mir also das Leben?« jauchzte er. »Oh, ich werde Eure Barmherzigkeit nie vergessen!…«
»Ja, aber in deiner heutigen Art bist du eine Schande für deinen Stamm. Man wird dich wieder einschläfern müssen…« Das Entsetzen im Gesicht Bilans gewahrend, fuhr der Scheuch beruhigend fort: »Allerdings sollst du nicht für lange Zeit eingeschläfert werden, ein Monat oder zwei werden wohl genügen. Danach wird man dich erst richtig umerziehen. Jetzt geh in die Smaragdenstadt und teile Ruschero mit, ich habe gebeten, einen anständigen Menschen aus dir zu machen.«
»Bei allen Masten und Segeln!« rief Charlie Black, »das ist ein guter Einfall, Bruder Scheuch!«

Ruf Bilan verneigte sich bis zur Erde, stammelte unzählige Dankesworte und machte sich auf den Weg. Als er hinter einem Hügel verschwand, trat aus der Schar der Zwerge Kastaglio hervor und wandte sich ehrerbietig an den Scheuch:
»Dreimalweiser Herrscher der Smaragdeninsel! Wir haben schon lange von Euren hervorragenden Eigenschaften gehört, und wir bitten Euch jetzt, uns Zwerge unter Eure hohe Schirmherrschaft zu nehmen!«
»Was heißt das?« fragte der Scheuch verwundert.
»Das heißt, daß wir Eure Untertanen sein möchten. Wir wissen natürlich, daß wir eine solche Ehre nicht verdient haben, doch sind wir bereit, Euch jeden Tribut zu zahlen, den Ihr uns aufzuerlegen geruhet.«
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