Drei Tage vor der Walpurgisnacht kam die Muhme Rumpumpel geritten. Sie stieg aus der schwarzen Wolke und sagte: „Ich komme im Auftrag der Oberhexe und lade dich vor den Hexenrat, übermorgen um Mitternacht ist die Prüfung. Dann sollst du am Kreuzweg hinter dem roten Stein in der Heide sein. — Du brauchst aber, wenn du es dir überlegt haben solltest, auch nicht zu kommen..."
„Da gibt es doch gar nichts zu überlegen!" sagte die kleine Hexe.
„Wer weiß?" entgegnete achselzuckend die Hexe Rumpumpel. „Vielleicht ist es trotzdem klüger, wenn du daheim bleibst. Ich werde dich gern bei der Oberhexe entschuldigen."
„So?" rief die kleine Hexe. „Das glaube ich! Aber ich bin nicht so dumm, wie du meinst! Ich lasse mir keine Angst machen!"
„Wem nicht zu raten ist", sagte die Muhme Rumpumpel, „dem ist auch nicht zu helfen. Dann also bis übermorgen!" —
Der Rabe Abraxas hätte die kleine Hexe am liebsten auch diesmal begleitet. Aber er hatte im Hexenrat nichts verloren. Er mußte zu Hause bleiben und wünschte der kleinen Hexe, als sie sich auf den Weg machte, alles Gute.
„Laß dich nicht einschüchtern!" rief er beim Abschied. „Du bist eine gute Hexe geworden, und das ist die Hauptsache!"
Schlag zwölf kam die kleine Hexe am Kreuzweg hinter dem roten Stein in der Heide an. Der Hexenrat war schon versammelt. Außer der Oberhexe gehörten dazu eine Wind-, eine Wald-, eine Nebelhexe und auch von den anderen Hexenarten je eine. Die Wetterhexen hatten die Muhme Rumpumpel geschickt. Das konnte der kleinen Hexe nur recht sein. Sie war ihrer Sache sicher und sagte sich: Die wird platzen vor Ärger, wenn ich die Prüfung bestehe und morgen mit auf den Blocksberg darf!
„Fangen wir an!" rief die Oberhexe, „und prüfen wir, was die kleine Hexe gelernt hat!"
Nun stellten die Hexen der Reihe nach ihre Aufgaben: Windmachen, Donnemlassen, den roten Stein in der Heide weghexen, Hagel und Regen heraufbeschwören — es waren keine besonders schwierigen Dinge. Die kleine Hexe geriet nicht ein einziges Mal in Verlegenheit. Auch als die Muhme Rumpumpel von ihr verlangte: „Hexe das, was auf Seite drei
hundertvierundzwanzig im Hexenbuch steht!", war die kleine Hexe sofort im Bild. Sie kannte das Hexenbuch in- und auswendig.
„Bitte sehr!" sagte sie ruhig und hexte das, was auf Seite dreihundertvierundzwanzig im Hexenbuch steht: ein Gewitter mit Kugelblitz.
„Das genügt!" rief die Oberhexe. „Du hast uns gezeigt, daß du hexen kannst. Ich erlaube dir also, obwohl du noch reichlich jung bist, in Zukunft auf der Walpurgisnacht mitzutanzen. — Oder ist jemand im Hexenrat anderer Meinung?"
Die Hexen stimmten ihr zu. Nur die Muhme Rumpumpel entgegnete: „Ich!"
„Was hast du dagegen einzuwenden?" fragte die Oberhexe. „Bist du mit ihrer Hexenkunst etwa unzufrieden?"
„Das nicht", versetzte die Muhme Rumpumpel. „Sie ist aber trotzdem, wie ich beweisen kann, eine schlechte Hexe!" Sie kramte aus ihrer Schürzentasche ein Heft hervor. „Ich habe sie während des ganzen Jahres heimlich beobachtet. Was sie getrieben hat, habe ich aufgeschrieben. Ich werde es vorlesen."
„Lies es nur ruhig vor!" rief die kleine Hexe. „Wenn es nicht lauter Lügen sind, habe ich nichts zu befürchten!"
„Das wird sich heraus stellen!" sagte die Muhme Rumpumpel. Dann las sie dem Hexenrat vor, was die kleine Hexe im Lauf dieses Jahres getan hatte: Wie sie den Klaubholzweibem geholfen und wie sie den bösen Förster kuriert hatte; die Geschichten vom Blumenmädchen, vom Bierkutscher und vom Maronimann brachte sie auch vor; vom Ochsen Korbinian, dem die kleine Hexe das Leben gerettet hatte, vom Schneemann und von den Eierdieben erzählte sie gleichfalls.
„Vergiß nicht den Schindelmacher!" sagte die kleine Hexe. „Den habe ich auch zur Vernunft gebracht!"
Sie hatte erwartet, daß sich die Muhme Rumpumpel nach besten Kräften bemühen würde, sie schlecht zu machen. Statt dessen las sie aus ihrem Merkheft nur Gutes vor.
„Stimmt das auch?" fragte die Oberhexe nach jeder Geschichte.
„Jawohl!" rief die kleine Hexe, „es stimmt!" — und war stolz darauf.
In ihrer Freude entging es ihr ganz und gar, daß die Oberhexe von Mal zu Mal strenger fragte. Sie merkte auch nicht, daß die übrigen Hexen bedenklich und immer bedenklicher mit den Köpfen wackelten. Wie erschrak sie daher, als plötzlich die Oberhexe entrüstet ausrief:
„Und so etwas hätte ich morgen nacht um ein Haar auf den Blocksberg gelassen! Pfui Rattendreck, welch eine schlechte Hexe!"
„Wieso denn?" fragte die kleine Hexe betroffen. „Ich habe doch immer nur Gutes gehext!"
„Das ist es ja!" fauchte die Oberhexe. „Nur Hexen, die immer und allezeit Böses hexen, sind gute Hexen! Du aber bist eine schlechte Hexe, weil du in einem fort Gutes gehext hast!"
„Und außerdem", klatschte die Muhme Rumpumpel — „außerdem hat sie auch einmal am Freitag gehext! Sie tat es zwar hinter verschlossenen Fensterläden, aber ich habe zum Schornstein hineingeschaut."
„Wie?!" schrie die Oberhexe, „das auch noch!"
Sie packte die kleine Hexe mit ihren Spinnenfingern und zauste sie an den Haaren. Da stürzten auch alle übrigen Hexen mit wildem Geheul auf das
arme Ding und verbleuten es mit den Besenstielen. Sie hätten die kleine Hexe wohl krumm und lahm geschlagen, wenn nicht die Oberhexe nach einer Weile gerufen hätte:
„Genug jetzt! Ich weiß eine bessere Strafe für sie!" Hämisch befahl sie der kleinen Hexe: „Du wirst auf dem Blocksberg das Holz für das Hexenfeuer
Zusammentragen. Du ganz allein! Bis morgen um Mitternacht mußt du den Scheiterhaufen errichtet haben. Wir werden dich dann in der Nähe an einen Baum binden, wo du die ganze Nacht stehen und zuschauen sollst, wie wir anderen tanzen!"
„Und wenn wir die ersten paar Runden getanzt haben", hetzte die Muhme Rumpumpel, „dann gehen wir hin zu der kleinen Kröte und rupfen ihr einzeln die Haare vom Kopf! Das wird lustig! Das gibt einen Spaß für uns! An diese Walpurgisnacht wird sie noch lange denken!"
„Ich Unglücksrabe!" stöhnte der brave Abraxas, als ihm die kleine Hexe erzählt hatte, wie es ihr auf dem Kreuzweg hinter dem roten Stein in der Heide ergangen war. „Ich bin schuld daran! Ich — und sonst keiner! Nur ich habe dir geraten, immerfort Gutes zu hexen! Ach, wenn ich dir wenigstens helfen könnte!"
„Das muß ich wohl selber tun", sagte die kleine Hexe. „Ich weiß noch nicht, wie... Aber daß ich mich nicht an den Baum binden lasse, das weiß ich!"
Sie lief in die Stube und holte das Hexenbuch aus dem Tischkasten. Eifrig begann sie darin zu blättern.
„Nimmst du mich mit?" bat Abraxas.
„Wohin?"
„Auf den Blocksberg! Ich möchte dich heute nacht nicht allein lassen."
„Abgemacht", sagte die kleine Hexe. „Ich nehme dich mit. Aber nur unter einer Bedingung: Du mußt jetzt den Schnabel halten und darfst mich nicht stören!"
Abraxas verstummte. Die kleine Hexe vertiefte sich in das Hexenbuch. Von Zeit zu Zeit brummte sie etwas. Der Rabe verstand es nicht, aber er hütete sich, sie zu fragen.
Das ging bis zum Abend so fort. Dann erhob sich die kleine Hexe und sagte:
„Jetzt habe ich's! — Reiten wir nun auf den Blocksberg!"
Noch war auf dem Blocksberg nichts von den anderen Hexen zu sehen. Die mußten die Mittemachtsstunde abwarten, ehe sie auf die Besen steigen und herreiten durften. So schrieb es der Hexenbrauch für die Walpurgisnacht vor.
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