»Was sehen Sie, wenn Sie in den Spiegel schauen?«
»Ich? Ich sehe mich dastehen, ein Paar dicke Wollsocken in der Hand haltend. «
Nachdem Harry einige Minuten gegrübelt hatte, riss er den Nachruf aus dem Propheten heraus, faltete ihn vorsichtig zusammen und steckte ihn in den ersten Band von Praktische defensive Magie und ihr Einsatz gegen die dunklen Künste. Dann warf er den Rest der Zeitung zum Müll, drehte sich um und nahm sein Zimmer in Augenschein. Es war jetzt viel ordentlicher.
Aufzuräumen waren nur noch der neue Tagesprophet, der nach wie vor auf dem Bett lag, und das Stück des zerbrochenen Spiegels obenauf.
Harry durchquerte das Zimmer, ließ die Spiegelscherbe vom neuen Propheten gleiten und schlug die Zeitung auf. Als er am frühen Morgen der Zustelleule die Zeitungsrolle abgenommen hatte, hatte er nur kurz auf die Schlagzeile geschaut und die Zeitung dann beiseitegeworfen, nachdem er bemerkt hatte, dass es nicht um Voldemort ging. Harry war sicher, dass das Ministerium den Propheten unter Druck setzte, Nachrichten über Voldemort zurückzuhalten. Deshalb sah er erst jetzt, was ihm entgangen war.
Auf der unteren Hälfte der Titelseite stand eine kleinere Schlagzeile, darunter ein Bild von Dumbledore, auf dem er mit gequältem Gesichtsausdruck einherschritt:
DUMBLEDORE – ENDLICH DIE WAHRHEIT?
Nächste Woche bringen wir die schockierende Geschichte des makelbehafteten Genius, den viele für den größten Zauberer seiner Generation halten. Rita Kimmkorn demontiert das weit verbreitete Image der ehrwürdigen, silberbärtigen Weisheit und enthüllt die gestörte Kindheit, die gesetzlose Jugend, die lebenslangen Fehden und die bedrückenden Geheimnisse, die Dumbledore mit ins Grab nahm. WARUM war der Mann, der schon als Zaubereiminister gehandelt wurde, damit zufrieden, ein bloßer Schulleiter zu bleiben? WAS war der wirkliche Zweck der geheimen Organisation mit dem Namen Orden des Phönix? WIE ist Dumbledore tatsächlich ums Leben gekommen ?
Die Antworten auf diese und viele weitere Fragen ergründet die sensationelle neue Biographie Leben und Lügen des Albus Dumbledore von Rita Kimmkorn, im Exklusivinterview mit Betty Braithwaite im Innenteil auf Seite 13.
Harry riss die Zeitung auf und blätterte auf Seite dreizehn. Über dem Artikel war ein Bild, das ein weiteres vertrautes Gesicht zeigte: eine Frau mit juwelenbesetzter Brille und kunstvoll gelocktem blondem Haar, die ihre Zähne bleckte, was offenbar ein gewinnendes Lächeln darstellen sollte, und mit den Fingern zu ihm hochschnippte. Harry gab sich alle Mühe, dieses Ekel erregende Bild nicht zu beachten, und las weiter.
In natura ist Rita Kimmkorn viel herzlicher und sanfter, als die berüchtigten bösen Porträts aus ihrer Feder vielleicht vermuten lassen. Sie begrüßt mich im Flur ihrer gemütlichen Wohnung und führt mich direkt in die Küche zu einer Tasse Tee, einem Stück Früchtekuchen und selbstverständlich zu einem dampfenden Bottich mit neuestem Klatsch.
»Nun, Dumbledore ist natürlich ein Traum für jeden Biographen«, sagt Kimmkorn. »Ein so langes, prall gefülltes Leben. Ich bin sicher, mein Buch wird das erste von sehr, sehr vielen sein.«
Kimmkorn hat zweifellos schnell geschaltet. Ihr neunhundertseitiges Buch war bereits vier Wochen nach Dumbledores mysteriösem Tod im Juni abgeschlossen. Ich frage sie, wie sie diesen superschnellen Kraftakt geschafft hat.
»Oh, wenn man so lange Journalistin ist wie ich, geht es einem in Fleisch und Blut über, unter Termindruck zu arbeiten. Ich wusste, dass die magische Welt darauf brannte, die ganze Geschichte zu erfahren, und ich wollte die Erste sein, die dieses Bedürfnis befriedigt.«
Ich erwähne die jüngsten, überall publizierten Bemerkungen von Elphias Doge, dem Sonderberater des Zaubergamots und langjährigen Freund von Albus Dumbledore, wonach »Kimmkorns Buch weniger Fakten enthält als eine Schokofroschkarte«.
Kimmkorn wirft den Kopf zurück und lacht.
»Unser lieber Dodgy! Ich weiß noch, wie ich ihn vor ein paar Jahren zu den Rechten der Wassermenschen interviewt habe, den Guten. Völlig plemplem, schien zu glauben, wir würden auf dem Grund von Lake Windermere sitzen, sagte andauernd zu mir, ich solle mich vor den Forellen in Acht nehmen.«
Und doch fanden Elphias Doges Vorwürfe, das Buch sei voller Fehler, vielerorts Unterstützung. Meint Kimmkorn wirklich, dass vier kurze Wochen ausreichend waren, um ein umfassendes Bild von Dumbledores langem und außergewöhnlichem Leben zu erstellen?
»Ach, meine Liebe«, strahlt Kimmkorn und klopft mir liebevoll auf die Finger, »Sie wissen genauso gut wie ich, wie viele Informationen ein dicker Sack Galleonen, die Weigerung, ein Nein hinzunehmen, und eine hübsche scharfe Flotte-Schreibe-Feder hervorbringen können! Die Leute standen ohnehin Schlange, um Dumbledore mit Dreck zu bewerfen. Wissen Sie, nicht alle hielten ihn für so wunderbar – er ist auf furchtbar viele wichtige Zehen getreten. Aber der alte Dussel Doge kann von seinem hohen Hippogreif runterkommen, denn ich hatte Zugang zu einer Quelle, für die die meisten Journalisten ihre Zauberstäbe eintauschen würden, sie hat sich nie zuvor in der Öffentlichkeit geäußert und stand Dumbledore in der turbulentesten und beunruhigendsten Phase seiner Jugend nahe.«
Die Wellen, die Kimmkorns Biographie schon vor der Veröffentlichung schlägt, lassen zweifellos vermuten, dass diejenigen ihr blaues Wunder erleben werden, die glauben, dass Dumbledore ein untadeliges Leben geführt hat. Was waren die größten Überraschungen, die sie aufgedeckt hat, frage ich.
»Nun mal langsam, Betty, ich werde doch nicht alle Highlights verraten, ehe jemand das Buch gekauft hat!«, lacht Kimmkorn. »Aber ich kann versprechen, dass all denen, die immer noch denken, Dumbledore war so unschuldig weiß wie sein Bart, ein böses Erwachen blüht! Ich sage nur so viel, dass niemand, der ihn gegen Du-weißt-schon-wen wüten gehört hat, sich hätte träumen lassen, dass er selbst sich in seiner Jugend an den dunklen Künsten versucht hat! Und für einen Zauberer, der sich in seinen späteren Jahren kontinuierlich für Toleranz einsetzte, verhielt er sich, als er noch jünger war, nicht gerade aufgeschlossen. Ja, Albus Dumbledore hatte eine äußerst düstere Vergangenheit, ganz zu schweigen von dieser mehr als zweifelhaften Familie, über die er mit großer Anstrengung den Mantel des Schweigens breiten wollte.«
Ich frage Kimmkorn, ob sie Dumbledores Bruder Aberforth meint, dessen Verurteilung durch den Zaubergamot wegen Missbrauchs von Magie vor fünfzehn Jahren einen kleinen Skandal ausgelöst hat.
»Oh, Aberforth ist nur die Spitze des Misthaufens«, lacht Kimmkorn.
»Nein, nein, ich rede über viel Schlimmeres als einen Bruder, der eine Schwäche dafür hat, mit Ziegen herumzuspielen, sogar über noch Schlimmeres als den Muggel verstümmelnden Vater – Dumbledore konnte sowieso keinem von beiden den Mund verbieten, sie wurden alle zwei vom Zaubergamot angeklagt. Nein, es sind die Mutter und die Schwester, die meine Neugierde weckten, und als ich ein wenig nachschürfte, stieß ich auf ein ausgemachtes Nest an Niedertracht – aber, wie gesagt, um Genaueres zu erfahren, werden Sie auf Kapitel neun bis zwölf warten müssen. Im Augenblick kann ich nur verraten, dass es kein Wunder ist, dass Dumbledore nie darüber sprach, wie er sich die Nase gebrochen hat.«
Selbst wenn die Familie Leichen im Keller hat, will Kimmkorn etwa den genialen Geist in Abrede stellen, der zu Dumbledores vielen magischen Entdeckungen geführt hat ?
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