„John?“
*
„Hättest du ihn wirklich festgenommen?“, fragte Ed.
Der gläserne Fahrstuhl, der in einer Glas-Röhre durch die einzelnen Stockwerke schwebte, befand sich in einer Ecke im Südwesten des Gebäudes. Als sie nach oben fuhren, erhielten sie eine erst atemberaubende dann schwindelerregende Ansicht der Stadt. Ein Blick auf die Riesenhaftigkeit der Stadt wurde freigegeben und sie fanden sich gegenüber des Empire State Buildings und zur Rechten des Gebäudes der Vereinten Nationen wieder. In der Ferne schimmerten einige Flugzeuge im Landeanflug auf den LaGuardia Flughafen in der Morgensonne.
Luke grinste. „Für was hätte ich ihn denn festnehmen sollen?“ Ed gluckste. Der Fahrstuhl fuhr immer höher. „Ich bin echt müde. Ich war gerade dabei ins Bett zu gehen als Don mich anrief.“ „ich weiß“, sagte Luke. „Ich auch.“ Ed schüttelte den Kopf. „Ich habe diese rund um die Uhr Dinger lange nicht gemacht. Ich habe sie nicht vermisst.“ Der Fahrstuhl erreichte das Obergeschoss. Ein warmer Ton kündigte das an und die Türen glitten auseinander. Sie traten in eine große Halle. Der polierte Boden reflektierte das Licht. Direkt vor ihnen in etwa zehn Meter Entfernung standen zwei Männer. Sie waren groß und trugen Anzüge, dunkle Haut, vielleicht Perser, vielleicht anderer Ethnizität. Sie versperrten den Zugang zu einer Flügeltür. Luke war das egal.
„Sieht so aus als hätte unser Wächter bereits durchgerufen.“ Einer der Männer in der Halle winkte mit der Hand. „Nein! Sie müssen wieder runterfahren. Sie können hier nicht rein.“ „Bundespolizei“, sagte Luke. Er und Ed liefen auf die Männer zu. „Nein! Sie haben hier keine Hoheitsgewalt. Wir werden Ihnen keinen Zugang gewähren.“ „Ich vermute mal, dass ich es mir sparen kann, ihnen meine Marke zu zeigen,“ sagte Luke. „Ja“, sagte Ed. „Überflüssig.“ „Auf mein Signal, okay?“ „Klar.“ Luke wartete eine Sekunde. „Los.“ Sie waren anderthalb Meter von den Männern entfernt. Luke erreichte einen der Männer als erster und schlug ihm seine Faust ins Gesicht. Er war überrascht, wie langsam seine Faust sich zu bewegen schien. Der Mann war gute zehn Zentimeter größer als er. Er hatte ein Kreuz so groß wie das eines Greifvogels. Er wehrte den Schlag mit Leichtigkeit ab und griff Lukes Handgelenk. Er war stark und zog Luke zu sich.
Luke holte mit dem Knie in Richtung Leistengegend aus, aber der Mann wehrte auch das mit seinem Bein ab. Der Mann schlang seine Pranke um Lukes Hals. Seine Finger gruben sich wie die Greifer eines Adlers in das empfindliche Fleisch.
Mit seiner linken Hand, die noch frei war, langte Luke ihm in die Augen. Zeigefinder und Mittelfinger in jeweils ein Auge. Es war kein überraschender Zug, aber er war wirkungsvoll. Der Mann ließ von Luke ab und trat einen Schritt zurück. Seine Augen tränten. Er blinzelte und schüttelte den Kopf. Dann grinste er.
Dann tauchte Newsam aus dem Nichts auf, wie ein Geist. Er nahm den Kopf des Mannes in beide Hände und schlug ihn hart gegen die Wand. Die Gewalttätigkeit dieser Geste war enorm. Manche Leute schlugen den Kopf ihres Gegners gegen die Wand. Was Newsam hier versuchte, war mit dem Kopf des Mannes die Wand zu durchbrechen.
Krach! Das Gesicht des Mannes zuckte. Krach! Sein Kiefer stand offen. Krach! Seine Augen verdrehten sich. Luke hob die Hand. „Ed! Okay. Ich glaube das reicht. Er hat genug. Lass ihn los. Diese Wände sehen aus wie Marmor.“ Luke sah zu dem anderen Wächter. Er lag bereits erledigt auf dem Boden, seine Augen waren geschlossen, sein Mund stand offen und sein Kopf lehnte an der Wand. Ed hatte kurzen Prozess mit ihnen gemacht. Luke hatte nicht eine kleine Schramme an ihnen hinterlassen.
Luke zog einige Kabelbinder aus Plastik aus seiner Tasche und kniete sich vor seinen Mann. Er band die Knöchel des Mannes zusammen. Er zurrte sie fest, wie die eines preisgekürten Schweines. Irgendwann würde jemand kommen und ihn davon befreien. Wenn der Moment gekommen war, würde der Mann wahrscheinlich für eine Stunde kein Gefühl in seinen Füßen mehr haben.
Ed tat das gleiche mit seinem Mann. „Du bist ein wenig eingerostet, Luke“, sagte er. „Ich? Nicht doch. Ich soll ja nicht einmal kämpfen. Sie haben mich wegen meines Verstands dazu geholt.“ Er konnte noch immer die Stelle an seinem Hals spüren, an der der Mann ihn zuvor gepackt hatte. Morgen würden sie sich zurückmelden. Ed schüttelte den Kopf. „ Ich war bei der Delta Force, genau wie du. Ich kam zwei Jahre nach dem Stanley Außenposteneinsatz in Nuristan. Damals haben die Leute noch viel davon gesprochen. Wie sie euch dort oben abgesetzt haben und ihr wurdet förmlich überrollt. Am Morgen waren nur noch drei Männer übrig, die kämpften. Du warst einer von diesen, stimmt’s?“
Luke grummelte. „Ich habe keine Ahnung von…“ „Hör mit dem Mist auf“, sagte Ed. „Geheim oder nicht, ich kenn die Geschichte.“ Luke hatte gelernt sein Leben in luftdichten Räumen zu leben. Er sprach nur selten über diesen Zwischenfall. Das schien in einem anderen Leben stattgefunden zu haben, in einer Ecke im Osten Afghanistans so weit entfernt dass dort ein paar Truppen aufzustellen schon viel geheißen hatte. Es war ewig her. Nicht einmal seine Frau wusste davon.
Aber Ed war bei der Delta gewesen, also… na gut.
„Ja“, sagte er. „Ich war dort. Schlechte Geheimdienstinformationen haben uns dorthin verschlagen und es wurde so zu dem schlimmsten Kampf meines Lebens.“ Er deutete auf die zwei Männer auf dem Boden.
„Im Vergleich dazu sieht das hier aus wie eine Folge aus Happy Days . Wir haben damals neun gute Leute verloren. Noch vor Sonnenaufgang ging uns die Munition aus.“ Luke schüttelte den Kopf. „Es wurde ziemlich hässlich. Die meisten unserer Männer waren da schon tot. Und wir drei, die noch lebten… ich weiß nicht, ob wir jemals wirklich zurückkamen. Martinez war hüftabwärts gelähmt. Das Letzte, was ich von Murphy gehört habe, war, dass er obdachlos ist und aus der Veteranen Psychiatrie rein- und rausspaziert.“
„Und du?“ „Ich habe bis heute Alpträume.“ Ed schnürte die Hände seines Mannes zusammen. „Ich kannte einen Typen aus dem Aufräumtrupp, der das Gebiet danach inspizierte. Er sagte, dass sie hundertsiebenundsechzig Leichen auf dem Hügel gefunden hatten, unsere Leute nicht miteingeschlossen. Es hatte einundzwanzig Tote aus Nahkämpfen mit dem Feind innerhalb dieses Parameters gegeben.“
Luke schaute zu ihm. „Warum erzählst du mir das?“
Ed zuckte die Schultern. „Du bist ein klein wenig eingerostet. Kein Ehrverlust das einzugestehen. Und du bist wahrscheinlich nicht auf den Kopf gefallen. Aber du hast auch dieses Kampfgen, genau wie ich.“
Luke lachte schallend. „Okay. Ich bin eingerostet. Aber wieso nur ein klein wenig?“ Er lachte und blickte zu Eds enormer Statur auf.
Ed lachte. Er durchsuchte die Taschen des Mannes auf dem Boden. Nach wenigen Sekunden hatte er gefunden, wonach er gesucht hatte. Die elektronische Karte würde das digitale Schloss, das an der Wand neben der Flügeltür angebracht war, entriegeln.
„Sollen wir rein?“ „Bitte nach dir,“ sagte Ed.
„Sie haben kein Recht hier zu sein!“, schrie der Mann. „Raus, raus aus meiner Wohnung!“
Sie standen inmitten eines gigantischen offenen Wohnzimmers. Ein kleiner Flügel stand in einer entfernten Ecke, Fenster, die vom Boden fast bis zur Decke reichten, eröffneten eine Aussicht, welche diejenige des Fahrstuhls zuvor sogar noch übertraf. Morgenlicht strömte hinein. Ein weißes Sofa mit dazu passendem Tisch und Designerstühlen bildeten eine Sitzgruppe, die sich vor einem riesigen an der Wand befestigten Flachbildfernseher gruppierte. Auf der gegenüberliegenden Wand hing ein ebenso großes Ölgemälde, drei Meter hoch, bunte Farbklekse und -tupfer wirbelten wild durcheinander. Luke kannte sich etwas mit Kunst aus. Er tippte auf Jackson Pollock.
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