„Ich werde mit Lehl sprechen“, murmelte Riley.
Sobald sie diese Worte ausgesprochen hatte, fragte sie sich, was sie wirklich damit meinte. Würde sie tatsächlich zum federführenden Special Agent Erik Lehl gehen und ihn darum bitten, Crivaros Kündigung zu ignorieren? Glaubte sie, damit Erfolg haben zu können?
„Ich denke, das solltest du tun“, meinte Crivaro. „Lehl will sogar selbst mir dir sprechen. Er hat mich gebeten, dich als erstes zu ihm zu schicken. Es klang so, als hätte er eventuell einen Fall für dich.“
Riley öffnete den Mund, brachte aber keine Worte heraus.
Wie konnte sie ihre Gefühle in Worte fassen?
Schließlich sagte sie stotternd: „Agent Crivaro, ich … ich denke nicht, dass ich bereit bin.“
„Du hast recht“, sagte Crivaro. „Du bist nicht bereit.“
Riley betrachtete ihren Partner überrascht.
„Hör zu, niemand ist bereit, wenn sie zum ersten Mal auf sich selbst gestellt sind. Aber du musst dich dazu bringen. Du bist die talentierteste Agentin, mit der ich jemals zusammengearbeitet habe. Deine Instinkte sind so gut wie meine und das heißt eine Menge. Niemand kann so gut in den Kopf eines Täters vordringen wie wir beide. Und du entwickelst das Können, um diese rohen Fähigkeiten zusammen zu fügen. Aber ich halte dich auf. Du verlässt dich zu sehr auf mich. Du musst lernen, dir selbst zu vertrauen. Ich hätte nie gedacht, das über einen Partner zu sagen, aber …“
Er kicherte leise.
„Du machst es dir mit mir zu bequem.“
Riley konnte nicht anders, als ebenfalls zu lachen.
„Sie machen Witze, oder?“, sagte sie.
„Ich weiß, es klingt verrückt, aber das ist die Wahrheit“, meinte Crivaro. „Ich weiß nicht, was du als nächstes brauchst, aber ich bin es nicht. Vielleicht musst du ein paar Fälle allein bestreiten. Gott weiß, dass ich das oft genug musste. Oder vielleicht brauchst du einen Partner, der absolut nicht umgänglich ist.“
Riley schüttelte den Kopf. „Das hatte ich doch schon mit Ihnen.“
„Vielleicht zu Beginn, aber dann nicht mehr. Du bist der einzige Partner, den ich je hatte, der mich ausstehen konnte. Ich bin ein launenhafter, alter Mistkerl – und du weißt es.“
Riley lächelte dünn.
Dem kann ich mich nicht widersetzen, dachte sie.
Dann schwiegen sie wieder.
Riley ertappte sich dabei, über die Fälle nachzudenken, an denen sie gemeinsam gearbeitet hatten – vor allem den in Arizona, als sie und Crivaro Undercover als Vater und Tochter ermittelt hatten. Es hatte sich überhaupt nicht wie eine Show angefühlt, zumindest nicht für Riley.
Und jetzt fragte sie sich – sollte sie ihm sagen, dass er ihr mehr ein Vater war, als ihr biologischer Vater es je auf die Reihe gekriegt hatte?
Nein, sonst fange ich an zu weinen , dachte sie. Und das würde ihn wirklich anpissen.
Stattdessen sagte sie: „Was werden Sie mit sich anstellen?“
Crivaro lachte wieder.
„Es heißt Rente , Riley. Was tut man als Rentner? Vielleicht fange ich an, Bridge zu spielen – wenn ich einen Partner finden kann, was vermutlich eher unwahrscheinlich ist. Oder vielleicht mache ich eine Kreuzfahrt durch die Karibik. Fange an Golf zu spielen. Trete einem Theaterverein bei. Oder einer Quilt-Gruppe.“
Riley lachte wieder, als sie sich vorstellte, wie Crivaro mit einem Haufen Frauen in seinem Alter Quilts nähte.
„Sie geben mir keine ernste Antwort“, sagte sie.
„Nein und vielleicht habe ich es satt, ernst sein zu müssen. Und vielleicht mag ich die Vorstellung, keine Ahnung zu haben, was ich mit dem Rest meines Lebens anstellen soll. Was auch immer es sein wird – es wird ein Abenteuer werden.“
Riley hörte einen Hauch von Unsicherheit, als er das Wort ‚Abenteuer‘ aussprach.
Er ist sich nicht sicher, dachte sie.
Er versucht, sich selbst davon zu überzeugen.
Aber stand es ihr zu, zu versuchen, seine Entscheidung zu kippen?
Crivaro sah auf die Uhr und zeigte dann auf das Gebäude.
„Du musst da rein“, meinte er. „Du willst Lehl nicht warten lassen.“
Dann legte er eine tröstende Hand auf Rileys Schulter.
„Ich melde mich, Kiddo“, sagte er. „Wahrscheinlich häufiger, als dir lieb ist.“
„Das bezweifle ich, Agent Crivaro“, sagte Riley.
Crivaro wedelte einen Finger durch die Luft.
„Hey, ich bin jetzt Rentner, schon vergessen? Kein ‚Agent Crivaro‘-Zeug mehr. Es ist Zeit, dass du anfängst, mich Jake zu nennen.“
Riley fühlte einen Knoten in ihrem Hals.
„Okay … Jake“, sagte sie fast flüsternd.
Als er seine Wagentür öffnete, wies er sie erneut an: „Und jetzt geh da rein, an die Arbeit.“
Als Riley begann, davonzulaufen, drehte sie sich erneut um, als sie seine Stimme hörte.
„Hey, das Versprechen, das du gestern im Gerichtssaal gemacht hast … das war genau das Richtige. Und ich wünschte, ich hätte es gesagt. Ich weiß, dass du dir deshalb Sorgen machst, aber du wirst dieses Versprechen einhalten. Das weiß ich. Und – wenn ich lange genug lebe – werde ich alles tun, um dir dabei zu helfen.“
Crivaro startete seinen Wagen und verließ den Parkplatz.
Riley sah ihm zu, wie er davonfuhr, noch immer entschlossen, nicht zu weinen.
Dann ging sie auf das Gebäude der Verhaltensanalyseeinheit zu, um mit Lehl zu sprechen.
Obwohl im Gebäude der Verhaltensanalyseeinheit der übliche Trubel herrschte, fühlte sich der Ort für Riley seltsam leer an. Ihr war deutlich bewusst, dass Jake Crivaro nicht hier war. War es wirklich möglich, dass ihr Mentor nie wieder einen Fuß in dieses Gebäude setzen würde? Und wenn er wirklich weg war, wie konnten dann alle anderen hier einfach ihren Tagesablauf weiterführen, als ob sich nichts geändert hätte?
Natürlich. Ihr fiel ein, dass bisher fast niemand wusste, dass Crivaro gekündigt hatte.
Dann musste Riley zugeben, dass selbst, wenn sie es wüssten, es vielleicht niemanden sonst so sehr interessieren würde wie sie. Obwohl Jake Crivaro dort so etwas wie eine lebende Legende war, wusste jeder, dass alle Legenden irgendwann enden mussten.
Alle außer mir, dachte sie.
Sie blieb ihm Flur stehen, unsicher, wohin sie gehen sollte. Schließlich hatte sie keinen Partner mehr, den sie um Anweisungen bitten konnte. Dann fiel ihr ein, dass Crivaro erwähnt hatte, dass Lehl sie erwartete, möglicherweise, um ihr einen Fall zuzuweisen.
Als sie auf den Aufzug zuging, erinnerte sie sich daran, wie Crivaro zum ersten Mal in ihr Leben getreten war. Damals, als sie noch Studentin an der Lanton University war, war Crivaro aufgetaucht, nachdem zwei ihrer Mitbewohner im Studentenwohnheim ermordet worden waren. Gerade als Riley sich nicht ängstlicher und hilfloser hätte fühlen können, hatte er ihre ungewöhnlichen Instinkte erkannt und sie involviert, um ihm bei der Suche nach dem Mörder zu helfen.
Und den hatten sie gefunden. Der Täter hatte sich als ihr Lieblingsprofessor erwiesen. Und er hätte auch sie getötet, wenn Crivaro ihr nicht das Leben gerettet hätte.
Seither war Rileys Welt auf den Kopf gestellt worden. Nach dem Studium hatte Crivaro ihr einen Platz im Sommerprogramm des FBIs besorgt und daraufhin hatte sie die Academy in Quantico besucht. Bis auf die letzten paar Wochen, in denen es keine aktiven Fälle gegeben hatte, war ihr Leben ein konstanter Rausch der Aufregung und Gefahr gewesen.
Sie betrat den Aufzug und drückte den Knopf für das gewünschte Stockwerk. Der Aufzug war voll und Riley fühlte sich noch einsamer.
Keiner dieser Menschen weiß, was passiert ist, dachte sie erneut. Und ich bin mir nicht sicher, was jetzt mit mir geschehen wird.
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