Der hauptsächliche Grund, warum sie weiterhin hier in Langley im Untergeschoss blieb, war sicherlich nicht, dass die CIA sie nicht ins marokkanische Geheimgefängnis gesteckt hätte. Nein, es lag daran, dass die Agentur einfach nicht beweisen konnte, dass sie wirklich ein Verbrechen begangen hatte. Niemand im Team - weder Null noch Strickland und ganz sicher nicht Maria - hatten gegen sie ausgesagt oder über ihre Handlungen gesprochen.
Sie wussten einfach nicht, was tun mit einem möglicherweise gefährlichen, hochtrainierten und definitiv tödlichen Kind, das man vermutlich einer Gehirnwäsche unterzogen hatte. Deshalb blieb sie hier.
Doch Maria konnte nichts davon sehen. Sie sah einfach nur ein Mädchen, das ihr während der letzten paar Monate gelegentlich eine Verletzlichkeit gezeigt hatte, die bewies, dass sie immer noch ein Mensch war.
„Was ist denn?“, fragte Mischa.
Maria bemerkte, dass ihre Augen immer noch geschlossen waren. Sie öffnete sie und lächelte, als sie sah, wie das Mädchen sie fragend anblickte. „Also … um ehrlich zu sein, bin ich traurig.“
„Warum.“ Es klang mehr wie eine Aussage als eine Frage.
„Ich bin traurig für dich“, erklärte Maria. „Dass du hier sein musst.“
„Ich war schon an schlimmeren Orten“, erwiderte das Mädchen.
„Das ist keine Entschuldigung dafür“, sagte Maria streng. „Du hast Besseres verdient. Du bist kein Tier. Vielleicht …“ Sie hielt inne. Vielleicht kann ich eine Zelle mit einem Fenster für dich aushandeln , wollte sie eigentlich sagen.
Aber es wäre immer noch eine Zelle.
Maria hatte begonnen, das Mädchen ein paar Tage nach ihrer Verhaftung zu besuchen. Seitdem kam sie zwei Mal wöchentlich. Während der ersten paar Besuche hatte Mischa sie nicht mal angesehen. An ein Gespräch war überhaupt nicht zu denken. Die nächsten paar Besuche danach hatte Maria damit verbracht, das Mädchen davon zu überzeugen, dass sie es nicht foltern oder quälen würde. Maria wollte keine Informationen. Sie wollte überhaupt nichts vom früheren Leben des Kindes wissen, das war die absolute Wahrheit. Die Zelle wurde sowohl durch Video- als auch Audioaufnahmen überwacht. Jegliche Erwähnung von Mischas Vergangenheit könnte Indiskretionen enthüllen, die ihr einen Flug ohne Rückfahrkarte zu einem viel schlimmeren Ort verschaffen könnten.
Maria hatte sieben Wochen gebraucht, um herauszufinden, dass die Lieblingsfarbe des Mädchens violett war, und dass sie Tootsie Rolls Süßigkeiten mochte - allerdings hatte sie auch den starken Verdacht, dass Mischa noch niemals eine andere Süßigkeit probiert hatte. Deshalb hatte sich Maria dazu entschlossen, ihr welche mitzubringen. So war es zu einem Ritual geworden, ihr ein Häppchen Essen mitzubringen und es ihr - mit der Erlaubnis des Wächters Ben - durch die kleine, rechteckige Tür in der Zelle zu schieben.
Maria wusste, dass sie beobachtet wurde, aber es war ihr egal. Sie war sich sogar ziemlich sicher, dass sie immer noch die Zugangsrechte einer stellvertretenden Direktorin hatte, weil sie das Mädchen besuchte. Solange sie dies in ihrer Freizeit tat, mussten alle anderen nur zuhören, aufpassen und hoffen, dass sich daraus Informationen ergaben.
Maria setzte sich im Schneidersitz auf den Boden direkt hinter der Glaswand, ihre Knie berührten sie fast. „Hast du Lust auf ein Spiel?“
Mischa blickte sie einen langen Moment aus ihrem Augenwinkel an. „Was denn für ein Spiel?“
„Es heißt: ,Ich habe noch nie.‘ Kennst du das?“
Das Mädchen schüttelte ein wenig den Kopf.
„Es ist ganz einfach. Halte drei Finger hoch. So.“ Maria wusste, dass das Mädchen nicht offen sprechen würde, doch sie hoffte, dass sie die Kleine dazu bringen würde, sich ein wenig zu öffnen, indem sie ein paar Fragen als ein Spiel tarnte. „Ich fange an. Ich sage etwas, das ich noch nie getan habe, doch das ich gerne tun würde. Wenn du das schon gemacht hast, dann nimmst du einen Finger herunter. Dann sagst du etwas, das du noch nie getan hast. Wenn du alle Finger heruntergenommen hast, dann verlierst du.“
Mischa starrte eine Weile auf den Boden, lange genug, damit Maria dachte, dass ihre List vielleicht doch nicht so klug war, wie sie anfänglich gedacht hatte.
Dann hob das Mädchen langsam einen Arm hoch und streckte drei Finger aus.
„Gut. Ich fange an. Äh … ich war noch nie auf den Bahamas.“
Die drei Finger des Mädchens blieben oben.
„OK“, sagte Maria, „jetzt bist du dran.“
„Ich habe noch nie …“, murmelte Mischa, „Fußball gespielt.“
Maria bog langsam einen Finger herunter. „Hast du Lust darauf?“
Mischa nickte einmal.
„Hast du andere Kinder spielen gesehen? Oder im Fernsehen?“
„Im Fernsehen. Es sah aus, als würde es…“ Sie hielt einen Moment inne, als würde sie versuchen, sich an das richtige Wort zu erinnern. „Spaß machen.“
Maria verkniff sich ein Lächeln. Das war das größte Zugeständnis, das Mischa ihr bisher gemacht hatte. „In Ordnung. Ich bin dran. Ich habe noch nie Süßigkeiten gegessen, bis mir schlecht wurde.“
Das Mädchen runzelte seine Stirn. „Warum würdest du so etwas tun wollen?“
„Na ja, ich würde das nicht wollen , stimmt. Aber manchmal übertreiben es die Leute einfach ein wenig.“
Mischas hielt weiter ihre drei Finger in die Luft. „Ich hatte noch nie eine Freundschaft.“
Maria biss sich schnell auf die Lippe, um das Keuchen zu unterdrücken, das ihr fast entfloh. Sie hatte nicht mit so viel Aufrichtigkeit gerechnet. Das traf sie unvorbereitet und erdrückte ihr Herz wie ein Schraubstock.
„Das tut mir leid“, sagte sie sanft und nahm ihren zweiten Finger herunter. „Vielleicht sollten wir aufhören.“
„Aber ich gewinne.“
Da machte sich ein ungewolltes Lächeln auf Marias Lippen breit. „Du hast recht. Das stimmt. OK. Äh … ich habe noch nie einen Garten angelegt.“
Ihre drei kleinen Finger blieben oben und Maria hielt den Atem an, gespannt über das, was sie als nächstes sagen würde.
„Ich habe noch nie meine Mutter kennengelernt.“
Maria atmete langsam aus. Das war eine fürchterliche Aussage, doch sie überraschte sie nicht sehr. Sie hatte sich schon vorgestellt, dass Mischa vermutlich ausgesetzt worden war oder verwaist war, vielleicht sogar von den Chinesen oder Samara - oder von der Gruppe, die sie trainiert hatte - gekidnappt worden war. Sie nahm ihren letzten Finger herunter und legte ihre Hände in ihren Schoß.
„Du hast gewonnen“, sagte sie. Das Spiel war ein kompletter Fehlschlag gewesen. Davon abgesehen, dass sie Fußball spielen wollte, hatte Maria nur herausgefunden, dass das Leben des Mädchens so schrecklich war, wie sie zuvor angenommen hatte. Schön wär’s…
„Mischa“, sagte sie plötzlich. „Ich kann dir nicht versprechen, dass du jemals deine Mutter kennenlernen wirst. Aber ich kann dir andere Dinge versprechen. Ich kann dir versprechen, dass du nicht für immer hier bleiben musst.“ Sie sprach schnell, als ob sie Angst hätte, dass ihr die Worte ausgingen, falls sie ihren Redefluss unterbräche. „Du wirst Fußball spielen und Freunde haben … und … und … du kannst so viele Süßigkeiten essen, bis dir schlecht wird, wenn du magst. Du kannst all das haben.“ Maria blinzelte, weil ihr Tränen in den Augen standen. Sie war überrascht über die ganzen Versprechen, die sie gemacht hatte, und bereute es sofort. Sie würde es versuchen, aber sie konnte eigentlich gar nichts wirklich versprechen. „Du solltest all diese Dinge haben.“
„Wie kann ich dir glauben?“, fragte das Mädchen.
Maria schüttelte ihren Kopf. Sie wusste, dass sie nur noch alles schlimmer machen würde, falls sie versagen sollte. „Wir fangen klein an. Lass mich dir etwas mitbringen. Nicht nur Essen. Sag mir etwas, das du gerne hättest. Eine Beschäftigung? Ein … Spielzeug oder einen Ball … oder …?“ Sie hatte keine Ahnung, woran das Mädchen interessiert sein könnte.
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