»Ja, und ich weiß es auch sehr zu schätzen, dass du für sie da warst, als es mit ihr zu Ende ging«, erwiderte ich. »Als sie allein starb und du mal wieder im Knast warst.«
»Und wo warst du?«, schoss es blitzschnell aus ihm hervor.
»Ich habe nie behauptet, sie zu lieben.«
»Warst du auf der Beerdigung?«
Wenn er glaubte, mich so mit Schmutz bewerfen zu können, würde ich ihn eines Besseren belehren. »Nein. Ich gehe grundsätzlich nicht auf Beerdigungen. Aus verständlichen Gründen.«
Matthew begriff immer noch nicht. Er musste in den letzten Jahren einige graue Zellen verloren haben. Anstelle einer Frage sah er mich mit zusammengekniffenen Augen an.
»Die vielen Toten. Das ist wirklich ein Problem für mich.«
»Ach, Quatsch! Mach mir doch nichts vor! Ich bin’s, Matthew. Ich kenne dich. Du kannst andere übers Ohr hauen, aber nicht mich.« Matthew zwinkerte mir zu, als wären wir Teil einer Verschwörung.
»Verschwinde!«, sagte Tolliver.
»Ach, komm schon, Sohn!«, sagte Matthew ungläubig. »Du willst mir doch nicht weismachen, dass die Sache mit dem Leichenfinden stimmt? Das kannst du sonst wem erzählen! In Wahrheit ist deine Schwester doch bloß so eine esoterische Spinnerin.«
»Sie ist nicht meine Schwester, zumindest nicht direkt«, sagte Tolliver. »Wir sind ein Paar.«
Matthew wurde puterrot. Er sah aus, als müsste er sich gleich übergeben. »Du machst mich krank!«, sagte er und bereute es auf der Stelle.
Nun, jeder, den wir davon unterrichtet hatten, hatte irgendwie negativ darauf reagiert. Wenn ich Wert auf fremde Meinungen gelegt hätte, hätte ich mir Sorgen über unsere Beziehung gemacht.
Glücklicherweise war mir das vollkommen egal.
»Es wird Zeit, zu gehen, Matthew«, sagte ich und löste mich von Tolliver. »Als ehemaliger Junkie und Alkoholiker bist du nicht sehr tolerant.« Ich hielt ihm die Tür auf.
Matthew sah von mir zu seinem Sohn und wartete, dass Tolliver widersprach. Tolliver wies mit dem Kinn zur Tür. »Ich glaube, es ist besser, du gehst jetzt, bevor ich noch wütender werde«, sagte er tonlos.
Matthew ging an mir vorbei zur Tür und warf mir einen erbosten Blick zu.
Ich schloss sie hinter ihm und drehte den Schlüssel im Schloss. Ich ging zu Tolliver, umarmte ihn und sah in sein verschlossenes Gesicht. »Es könnte sich zur Abwechslung auch mal jemand für uns freuen«, sagte ich, um das Schweigen zu brechen. Keine Ahnung, was in Tolliver vorging. Wollte er es sich lieber noch mal anders überlegen?
Draußen war es inzwischen vollkommen dunkel, und das Fenster sah aus wie ein riesiges Auge, zumal wir im Erdgeschoss wohnten. Tolliver drückte mich kurz und ging zum Fenster, um die Vorhänge zuzuziehen. Wenn die Nacht draußen blieb und Tolliver und ich allein waren, würde es mir gleich besser gehen.
Tolliver stand mitten vor dem Fenster und streckte die Arme zu den Vorhängen. Ich stand seitlich hinter ihm und wollte mich gerade aufs Bett setzen, um die Schnürsenkel aufzumachen, als alles auf einmal geschah: Es gab einen lauten Knall, mein Gesicht und meine Brust brannten, und ich spürte etwas Feuchtes. Ein kalter Luftzug strich über mein Gesicht, während Tolliver zurückstolperte und mich aufs Bett warf. Er landete auf mir und glitt dann wie eine leblose Puppe zu Boden.
Ich sprang so schnell auf, dass ich wankte und merkte, dass unerklärlicherweise kalte Luft durch das Fenster kam. Ich sah an meiner Brust herunter. Sie war nass – aber es war kein Regen, sondern rote Flüssigkeit. Mein T-Shirt war hinüber. Keine Ahnung, warum mich das störte. Ich muss geschrien haben. Unbewusst begriff ich, dass Tolliver angeschossen worden war. Dass ich mit Glassplittern übersät war und blutete. Ja, dass plötzlich nichts mehr war wie zuvor.
6
Ich muss auf das Klopfen reagiert und die Tür geöffnet haben, denn plötzlich stand Matthew im Zimmer. Ich selbst war nicht in der Lage, Tolliver zu helfen. Ich stand einfach nur da, sah auf ihn herunter und streckte meine Hände von mir, nachdem ich mein Gesicht berührt hatte. Sie waren blutverschmiert. Da meine Hände schmutzig waren, wollte ich Tolliver nicht anfassen.
Matthew kniete neben seinem Sohn. Ich holte mein Handy aus der Tasche und wählte den Notruf, wofür ich mich konzentrieren musste wie noch nie in meinem Leben. Ich würgte den Namen des Motels und die Adresse hervor und sagte vermutlich, dass wir so schnell wie möglich einen Krankenwagen bräuchten. Ich sprach auch von einem »Scharfschützen«, weil mir das Wort gerade in den Sinn kam.
Unmittelbar darauf bereute ich es. Vielleicht kam jetzt kein Krankenwagen, weil der Fahrer Angst hatte. Doch dann schüttelte ich diesen Gedanken wieder ab, leistete Matthew auf dem Teppich Gesellschaft und sah ihn über Tollivers reglosen Körper hinweg an.
Auf mich war auch schon mal durch ein Fenster geschossen worden – eine beängstigende Erfahrung. Damals war ich ebenfalls von Glassplittern übersät gewesen. Aber diesmal war es noch viel schlimmer. Es war das Schlimmste, was mir je passiert war, ganz einfach, weil es Tolliver getroffen hatte. Ich konnte nur noch an ihn denken. Daran, wie merkwürdig es war, dass uns so etwas schon zum zweiten Mal passierte. Aber ich versuchte, mich aus meiner Trance zu reißen und zu helfen. Matthew zog Tolliver das Hemd aus, faltete es zusammen und drückte es auf die blutende Wunde.
»Halt das, du Idiotin!«, sagte er. Folgsam drückte ich meine Hände auf den provisorischen Verband. Unter meinen Fingern quoll Blut hervor.
Wenn er nicht so schnell vor der Tür gestanden hätte, hätte ich Matthew verdächtigt. Aber ich konnte ohnehin keinen klaren Gedanken fassen. Wäre mir das in den Sinn gekommen, hätte ich es bestimmt geglaubt.
Tollivers Augen öffneten sich. Er war leichenblass und verwirrt.
»Was ist passiert?«, fragte er. »Was ist passiert? Alles in Ordnung mit dir, mein Schatz?«
»Ja, alles in Ordnung«, sagte ich und drückte auf den Verband, so fest ich konnte. »Gleich kommt der Krankenwagen, mein Schatz.« Ich konnte mich nicht erinnern, Tolliver jemals »Schatz« genannt zu haben. »Er ist schon unterwegs, gleich wirst du verarztet. Du bist nicht schwer verletzt, alles wird gut.«
»War das eine Bombe?«, fragte er. »War das eine Explosion?« Seine Stimme zitterte. »Dad, was ist passiert? Harper ist verletzt.«
»Mach dir keine Sorgen um Harper«, sagte Matthew. »Es geht ihr prima. Sie ist außer Gefahr.« Er untersuchte Tollivers Verletzungen mit den Fingern und nahm das Hemd weg, um sich die Stelle anzusehen.
Dann verdrehte Tolliver die Augen, und seine Züge erschlafften.
»Oh, Gott!« Ich drückte wieder das Hemd auf die Wunde und hätte beinahe locker gelassen, wusste aber trotz meiner Panik, dass ich das auf keinen Fall tun durfte. Ich drückte und drückte eine halbe Ewigkeit. Ich durfte jetzt bloß nicht nachlassen.
»Er ist nicht tot!«, rief Matthew. »Er ist nicht tot.«
Aber für mich sah er tot aus.
»Nein«, sagte ich. »Er ist nicht tot. Das kann gar nicht sein. Es ist seine rechte Schulter, und da ist kein Herz. Er kann nicht daran sterben.« Ich wusste, wie dämlich sich das anhörte, aber im Moment konnte man mir das schlecht vorwerfen.
»Nein, er wird nicht sterben«, sagte sein Vater.
Ich öffnete den Mund, um Matthew anzuschreien, ohne zu wissen, was ich ihm eigentlich vorwerfen wollte, presste die Lippen jedoch wieder zusammen, weil ich einen Krankenwagen hörte.
Menschen drängten sich in der Tür zum Motelzimmer, sie redeten wild durcheinander und schrieen. Ich hörte auch, wie jemand den Leuten im Krankenwagen zurief: »Kommt her, kommt hierher!« Wenn ich den Kopf nach links wandte, konnte ich das Blaulicht vor dem Fenster sehen. Mehr als alles auf der Welt wünschte ich mir jetzt jemanden, der sich auskannte und der sich um alles kümmerte. Jemand, der meinen Bruder verarzten und die Blutung stoppen konnte.
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