Felix starrte ihn verblüfft an. »He, wovon redest du überhaupt? Willst du etwa allein reingehen? Das darfst du nicht! Allein hast du keine Chance, Jaime. Das ist viel zu gefährlich!«
Jaime schlug ihm auf die Schulter. »Wird schon schief gehen«, meinte er grinsend und stieg aus.
Sie beobachteten, wie Jaime ein Ledergeschäft neben der Bank betrat. Kurze Zeit später kam er mit einem Aktenkoffer in der Hand heraus, nickte ihnen zu und verschwand im Bankgebäude.
Megan konnte kaum atmen. Sie begann zu beten:
Beten ist ein Rufen.
Beten ist ein Hören.
Beten ist ein Bleiben.
Beten ist eine Gegenwart.
Beten ist eine Lampe,
die mit dem Feuer Jesu brennt.
Ich bin ruhig und voller Frieden.
Sie war nicht ruhig und voller Frieden.
Jaime Miro betrat die mit Marmor ausgekleidete Schalterhalle hinter den beiden gläsernen Flügeltüren. An der Wand darüber fiel ihm eine Überwachungskamera auf. Nach einem kurzen Blick in die Kamera inspizierte er gelassen die Halle. Hinter den Schaltern führte eine Treppe in den ersten Stock, in dem Bankangestellte an Schreibtischen arbeiteten. Kurz vor Schalterschluss war die Halle voller Kunden, die noch rasch ihre Geschäfte abwickeln wollten. Vor den drei Kassenschaltern hatten sich Schlangen gebildet.
Jaime reihte sich in eine der Schlangen ein und wartete geduldig, bis er an die Reihe kam.
»Buenas tardes«, sagte er freundlich lächelnd, als er den Kassenschalter erreichte.
»Buenas tardes, Senor. Was können wir heute für Sie tun?«
Jaime lehnte sich an den Schalter und zog das zusammengefaltete Fahndungsplakat aus der Tasche. Er hielt es dem Kassierer hin. »Sehen Sie sich das bitte mal an.«
Der Kassierer lächelte. »Gern, Senor.«
Er faltete das Plakat auseinander. Als er merkte, worum es sich handelte, riss er erschrocken die Augen auf. Aus dem Blick, den er Jaime Miro zuwarf, sprach nackte Angst.
»Nicht übel getroffen, was?« fragte Jaime halblaut. »Wie Sie selbst sehen, habe ich schon viele Leute umgebracht, so dass einer mehr mich nicht weiter belasten würde. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
»V-v-völlig klar, Senor. V-v-völlig! Ich bin Familienvater, Senor, und flehe Sie an.«
»Ich achte Familien, deshalb will ich Ihnen sagen, was Sie tun müssen, um Ihren Kindern den Vater zu erhalten.« Jaime schob dem Kassierer den vorhin gekauften Aktenkoffer zu. »Ich möchte, dass Sie ihn mir voller Scheine packen. Und ich verlange, dass Sie’s leise und schnell tun. Sollten Sie jedoch wirklich glauben, dass das Geld wichtiger als Ihr Leben ist, können Sie ruhig die Alarmanlage betätigen.«
Der Kassierer schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das tue ich bestimmt nicht!«
Er holte Geldscheinbündel aus seiner Schublade und packte sie mit zitternden Händen in den Aktenkoffer.
»Bitte sehr, Senor«, sagte der Kassierer, als der Aktenkoffer voll war. »Ich. ich verspreche Ihnen, keinen Alarm auszulösen.«
»Sehr klug von Ihnen«, bestätigte Jaime. »Ich will Ihnen auch sagen, weshalb, Amigo.« Er drehte sich um und nickte zu einer Mittvierzigerin hinüber, die mit einer Tragtüte in der Hand fast am Ende seiner Schlange stand. »Sehen Sie die Frau in dem blauen Kleid? Sie ist eine von uns. In der Tragtasche hat sie eine Bombe, die sie sofort zündet, falls Alarm gegeben wird.«
Der Kassierer wurde noch blasser. »Bitte nicht!«
»Nachdem sie die Bank verlassen hat, warten Sie noch zehn Minuten, bevor Sie auf Ihren Knopf drücken«, wies Jaime ihn an.
»Beim Leben meiner Kinder«, flüsterte der Mann hinter dem Schalter.
»Buenas tardes.«
Jaime griff nach dem Aktenkoffer und durchquerte damit die Schalterhalle in Richtung Ausgang. Da er den Blick des Kassierers zwischen seinen Schultern spürte, blieb er neben der Frau in Blau stehen.
»Ich muss Ihnen ein Kompliment machen«, sagte er charmant lächelnd. »Dieses Kleid steht Ihnen ausnehmend gut.«
Sie errötete leicht. »O Senor. vielen Dank!«
»Bitte, nichts zu danken.«
Jaime drehte sich um und nickte dem Kassierer zu, bevor er in aller Ruhe die Schalterhalle verließ. Bis die Frau erledigt hatte, was sie zu besorgen hatte, und ebenfalls ging, verstrich mindestens eine Viertelstunde. Bis dahin waren er und die anderen längst über alle Berge.
Als Jaime Miro aus der Bank trat und auf den Wagen zukam, wäre Megan vor Erleichterung fast ohnmächtig geworden.
Felix Carpio grinste. »Der Schweinehund hat’s geschafft!« Er drehte sich nach Megan um. »Entschuldigung, Schwester.«
Megan war überglücklich, Jaime zurückkommen zu sehen. Er hat ’s geschafft! dachte sie. Und ganz ohne fremde Hilfe! Die Schwestern werden staunen, wenn ich ihnen davon erzähle! Im nächsten Augenblick fiel ihr jedoch ein, dass sie niemandem davon würde erzählen können. Nach ihrer Rückkehr ins Kloster würde sie für den Rest ihres Lebens schweigen. Das war ein seltsames Gefühl.
»Rutsch rüber und lass mich fahren, Amigo«, sagte Jaime zu Felix. Er warf seinen Aktenkoffer auf den Rücksitz.
»Hat alles geklappt?« erkundigte Amparo sich.
Jaime lachte. »Problemlos. Ich muss daran denken, mich bei Oberst Acoca für seine Visitenkarte zu bedanken.«
Sie fuhren los. Gleich an der ersten Ecke bog Jaime nach links in die Calle de Tudela ab. Schon nach zehn Metern trat jedoch ein Polizeibeamter zwischen zwei parkenden Wagen auf die Fahrbahn und hob gebieterisch die Hand. Megans Herz begann zu jagen, als Jaime bremsen musste.
Der Uniformierte kam auf den Seat zu.
»Was gibt’s denn?« erkundigte Jaime sich gelassen.
»Wissen Sie eigentlich, dass Sie in Gegenrichtung durch eine Einbahnstraße fahren, Senor? Falls Sie nicht beweisen können, dass Sie blind sind, kommt Sie das teuer zu stehen.« Er deutete auf das Einbahnstraßenschild an der Ecke. »Diese Straße ist klar bezeichnet. Von Autofahrern wird erwartet, dass sie Verkehrszeichen beachten. Deshalb werden sie schließlich aufgestellt.«
»Ich bitte tausendmal um Entschuldigung«, antwortete Jaime. »Meine Freunde und ich haben so angeregt diskutiert, dass ich das Schild glatt übersehen habe.«
Der Polizeibeamte bückte sich, um durchs Fahrerfenster sehen zu können. Er kniff die Augen zusammen, während er Jaime Miro betrachtete.
»Ihren Zulassungsschein, Senor«, verlangte er dann.
»Sofort«, sagte Jaime.
Er griff in die Innentasche seiner Jacke, in der seine Pistole steckte. Auch Felix war zum Eingreifen bereit. Megan hielt den Atem an.
Jaime gab vor, seine Jackentaschen zu durchsuchen. »Ich weiß, dass ich ihn irgendwo habe.«
In diesem Augenblick ertönten hinter ihnen laute Schreie, und der Polizeibeamte drehte sich sofort nach ihnen um. An der Straßenecke schlug ein Mann auf eine kreischende Frau ein.
»Hilfe!« rief sie. »Helft mir doch! Er bringt mich um!«
Der Uniformierte zögerte nicht lange. »Sie warten hier, Senor!« wies er Jaime Miro an.
Dann trabte er die Straße entlang auf den Mann und die Frau zu.
Jaime legte den ersten Gang ein, ließ die Kupplung kommen und gab Gas. Der Seat schoss in falscher Richtung die Einbahnstraße hinunter, zwang entgegenkommende Fahrzeuge zum Ausweichen und wurde wütend angehupt. An der nächsten Ecke bog Jaime erneut ab und fuhr zu der Brücke weiter, die auf der Avenida Sanchez Arjona stadtauswärts führte.
Megan starrte Jaime an und bekreuzigte sich. Sie konnte kaum atmen.
»Hätten Sie. hätten Sie den Polizeibeamten erschossen, wenn dieser Mann nicht die Frau verprügelt hätte?«
Jaime würdigte sie keiner Antwort.
»Die Frau ist nicht wirklich angegriffen worden, Schwester«, erklärte Felix ihr. »Die beiden haben zu unseren Leuten gehört. Wir sind nicht allein. Wir haben viele Freunde.«
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