Als Megan am Zimmer der beiden vorbeikam, hörte sie Jaime und Amparo darin lachen. Sie betrat den kahlen, kleinen Raum, in dem sie schlafen sollte, und kniete auf dem kalten Steinboden nieder. »Lieber Gott, vergib mir.« Vergib mir was? Was habe ich getan?
Zum ersten Mal in ihrem Leben konnte Megan nicht beten. War Gott wirklich dort oben und hörte ihr zu?
Megan kroch in den Schlafsack, den Felix ihr überlassen hatte, aber der Schlaf war so fern wie die kalt glitzernden Sterne, die sie durchs schmale Fenster sah.
Was tue ich hier? fragte sich Megan. Sie dachte ans Kloster zurück. ans Waisenhaus. Und vor dem Waisenhaus? Weshalb bin ich dort ausgesetzt worden? Ich glaube nicht wirklich, dass mein Vater ein tapferer Soldat oder ein großer Matador gewesen ist. Aber war ’s nicht wundervoll, etwas über ihn zu erfahren?
Es war schon fast Tag, als Megan endlich einschlief.
In der Haftanstalt in Aranda de Duero war Lucia Carmine eine Berühmtheit.
»Sie sind ein dicker Fisch in unserem kleinen Teich«, erzählte einer der Wärter ihr. »Die italienische Polizei entsendet zwei Beamte, die Sie nach Hause bringen sollen. Ich würd’ Sie auch gern mit heimnehmen, Bonita Puta. Was haben Sie überhaupt angestellt?«
»Ich hab’ einem Mann, der mich Bonita Puta genannt hat, den Schwanz abgeschnitten. Sagen Sie mir lieber, wie’s meinem Freund geht.«
»Er kommt jedenfalls durch.«
Lucia sprach ein stummes Dankgebet. Sie starrte die Steinwände ihrer kahlen, schmuddeligen Zelle an und dachte: Verdammt noch mal, wie kommst du hier bloß wieder raus?
Die Meldung von dem Bankraub wurde auf dem gewöhnlichen polizeilichen Dienstweg weitergeleitet, so dass Oberst Acoca erst zwei Stunden nach dem Überfall von einem hohen Polizeibeamten informiert wurde.
Eine Stunde später war der Oberst in Valladolid. Er kochte vor Wut wegen der Verzögerung.
»Weshalb bin ich nicht sofort benachrichtigt worden?«
»Tut mir leid, Oberst, aber wir sind nicht auf die Idee gekommen, dass.«
»Sie haben ihn in der Hand gehabt und wieder laufen lassen!«
»Das ist nicht unsere.«
»Schicken Sie den Bankkassierer rein.«
Der Kassierer blähte sich wichtigtuerisch auf. »Er ist an meinen Schalter gekommen. Ich hab’ ihm sofort angesehen, dass er ein Killer ist. Er.«
»Sie haben keinen Zweifel daran, dass der Mann, der Sie überfallen hat, Jaime Miro gewesen ist?«
»Nicht den geringsten! Er hat mir sogar ein Fahndungsplakat mit seinem Bild gezeigt. Er ist.«
»Ist er allein aufgetreten?«
»Ja. Er hat auf eine in der Schlange wartende Kundin gezeigt und behauptet, sie gehöre seiner Bande an, aber nachdem Miro verschwunden war, habe ich sie erkannt. Sie ist eine Sekretärin, die ihr Gehaltskonto bei uns hat und.«
»Haben Sie gesehen, in welche Richtung Miro geflüchtet ist?« unterbrach Oberst Acoca ihn ungeduldig.
»In Richtung Ausgang.«
Die Befragung des Polizeibeamten war kaum lohnender.
»Sie haben zu viert im Wagen gesessen, Oberst. Jaime Miro und ein anderer vorn, die beiden Frauen hinten.«
»Wohin sind sie gefahren?«
Der Polizeibeamte zögerte. »Vom Ende der Einbahnstraße aus können sie in alle Richtungen gefahren sein«, gab er zu. Seine Miene hellte sich auf. »Aber ich kann das Fluchtfahrzeug beschreiben!«
Oberst Acoca schüttelte angewidert den Kopf. »Sparen Sie sich die Mühe.«
Sie träumte, und im Traum hörte sie die Stimmen des Mobs, der sich zusammenrottete, um sie wegen Banküberfalls auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Ich hab ’s nicht für mich, sondern für die gute Sache getan. Die Stimmen wurden lauter.
Megan öffnete die Augen, setzte sich auf und starrte die ihr fremden Burgmauern an. Aber die Stimmen waren real. Sie kamen von draußen.
Sie sprang auf und hastete an das schmale Fenster. Genau unter ihr hatten Soldaten auf der freien Fläche vor der Burg ein Lager bezogen. Jähe Panik erfüllte Megan. Wir sind umzingelt! Ich muss Jaime finden.
Megan lief zu dem Raum, in dem er mit Amparo geschlafen hatte, und warf einen Blick hinein. Er war leer. Sie rannte die Treppen zur Halle im Erdgeschoß hinunter. Jaime und Amparo standen in der Nähe der verriegelten Eingangstür und flüsterten miteinander.
Felix kam heran. »Ich habe hinten nachgesehen. Es gibt keinen Hinterausgang.«
»Was ist mit den rückwärtigen Fenstern?«
»Viel zu klein. Wir können nur durch diese Tür raus.«
Und dort sind die Soldaten, dachte Megan. Wir sitzen in der Falle.
»Ein Scheißpech, dass sie ausgerechnet hier ihr Lager aufschlagen müssen!« fluchte Jaime halblaut.
»Was tun wir jetzt?« flüsterte Amparo.
»Was sollen wir schon tun? Wir bleiben hier, bis sie abziehen. Vielleicht.«
In diesem Augenblick wurde energisch an die Eingangstür geklopft. »Aufmachen!« verlangte eine befehlsgewohnte Männerstimme.
Jaime und Felix wechselten einen raschen Blick und zogen stumm ihre Pistolen.
»Wir wissen, dass dort jemand drin ist«, rief die Stimme. »Los, macht auf!«
»Verschwindet von der Tür«, forderte Jaime Amparo und Megan auf.
Aussichtslos! dachte Megan, während Amparo hinter Jaime und Felix trat. Dort draußen sind mindestens dreißig Soldaten. Gegen die haben wir keine Chance.
Bevor die anderen reagieren konnten, war Megan an der Tür und öffnete sie einen Spalt weit.
»Gott sei Dank, dass Sie gekommen sind!« rief sie klagend aus. »Sie müssen mir helfen!«
Der Heeresoffizier starrte Megan prüfend an. »Wer sind Sie? Was tun Sie hier? Ich bin Hauptmann Rodriguez, und wir sind auf der Suche nach einem gewissen.«
»Sie kommen gerade noch rechtzeitig, Hauptmann.« Sie umklammerte seinen Arm. »Meine beiden kleinen Söhne haben Typhus und müssen dringend zu einem Arzt. Sie müssen reinkommen und mir helfen, sie raus zu tragen.«
»Typhus?«
»Ja.« Megan zerrte an seinem Arm. »Sie haben schrecklich hohes Fieber. Es verbrennt sie regelrecht! Sie sind mit Pusteln übersät und schwer krank. Rufen Sie Ihre Leute herein, damit sie mir helfen, die armen Würmer.«
»Senora! Sind Sie wahnsinnig? Typhus ist verdammt ansteckend!«
»Das darf jetzt keine Rolle spielen, Hauptmann. Sie brauchen Ihre Hilfe, sonst müssen sie vielleicht sterben.« Megan zerrte weiter an seinem Arm.
»Lassen Sie mich los!«
»Sie dürfen mich nicht im Stich lassen. Was soll ich nur tun?«
»Sie gehen wieder hinein und warten, bis wir die Polizei benachrichtigt haben, damit sie einen Arzt oder einen Krankenwagen schickt.«
»Aber.«
»Keine Widerrede, Senora. Hinein mit Ihnen!« Rodri-guez drehte sich um. »Sergeant, wir rücken ab!«
Megan schloss die Tür und lehnte sich ausgepumpt von innen dagegen.
Jaime starrte sie verblüfft an. »Mein Gott, das haben Sie wunderbar gemacht! Wo haben Sie bloß so lügen gelernt?«
Megan sah zu ihm hinüber und seufzte. »Im Waisenhaus haben wir gelernt, uns selbst zu verteidigen. Ich hoffe, dass Gott mir vergeben wird.«
»Ich wollte, ich hätte den Gesichtsausdruck dieses Hauptmanns beobachten können!« Jaime lachte halblaut. »Typhus! Verdammt noch mal!« Er fing den tadelnden Blick Megans auf. »Entschuldigung, Schwester.«
Draußen waren Arbeitsgeräusche zu hören: die Soldaten begannen, ihre Zelte abzubrechen.
»Die Polizei wird bald hier sein«, sagte Jaime, als das Militär abgerückt war. »Außerdem sind wir in Logrono verabredet.«
»Jetzt können wir auch verschwinden«, entschied Jaime eine Viertelstunde nach dem Abmarsch der Soldaten. Er wandte sich an Felix. »Sieh zu, was du in der Stadt auftreiben kannst. Am besten wieder eine Limousine.«
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