Amparo Jiron war weniger beeindruckt. Ich bin froh, wenn wir sie wieder vom Hals haben, dachte sie. Bis dahin blieb sie in Jaimes Nähe und ließ die Nonne neben Felix Carpio gehen.
Die Landschaft unter dem zart duftenden Hauch des Sommerwindes war wild und schön. Sie kamen an alten Dörfern vorbei, von denen einige unbewohnt und verlassen waren, und sahen hoch auf einem Hügel eine alte Burgruine.
Amparo erschien Megan wie ein Wildtier, das mühelos über Berg und Tal streifte und keine Ermattung zu kennen schien.
Als viele Stunden später Valladolid in der Ferne aufragte, machte Jaime halt.
Er wandte sich an Felix. »Ist alles vorbereitet?«
»Ja.«
Megan fragte sich, was vorbereitet sein sollte. Aber das erfuhr sie gleich.
»Tomas hat Anweisung, in der Stierkampfarena mit uns Verbindung aufzunehmen.«
»Wann schließt die Bank?«
»Um siebzehn Uhr. Wir haben reichlich Zeit.«
Jaime nickte. »Und heute dürfte der Kassenbestand ziemlich hoch sein.«
Großer Gott, sie wollen eine Bank überfallen! dachte Megan. Das versprach mehr Aufregung, als sie sich gewünscht hatte.
»Wie steht’s mit einem Wagen?« erkundigte Amparo sich.
»Kein Problem«, versicherte Jaime ihr.
Sie wollen ein Auto stehlen, dachte Megan. Das wird Gott nicht gefallen.
»Wir tauchen in der Menge unter«, sagte Jaime, als die Gruppe die Außenbezirke von Valladolid erreichte. »Heute ist Stierkampftag, da sind Tausende unterwegs. Aber passt auf, dass wir nicht getrennt werden.«
Was die Menschenmassen betraf, behielt Jaime Miro recht. Megan hatte noch nie so viele Menschen auf einmal gesehen. Auf den Straßen drängten sich Autos, Fußgänger und Motorradfahrer, denn der Stierkampf zog nicht nur Touristen, sondern auch die Einwohner umliegender Städte an. Selbst die Kinder auf der Straße spielten Stierkampf.
Megan fand das Gedränge, den Lärm und das bunte Treiben um sie herum faszinierend. Sie blickte in die Gesichter von Passanten und fragte sich, wie ihr Leben verlaufen mochte. Ich bin bald genug wieder im Kloster, wo ich niemanden ansehen darf. Deshalb muss ich diese Gelegenheit nutzen, solange ich kann.
Die Gehsteige, über denen Öldunst aus zahlreichen Ständen lag, die frittierte Obstschnitten verkauften, füllten sich mit Straßenhändlern, die Andenken, geweihte Medaillen und Kreuzchen an Silberketten anboten.
Megan merkte plötzlich, wie hungrig sie war.
»Jaime, wir sind alle hungrig«, sagte Felix wenig später. »Wenn ihr einen Augenblick wartet, hole ich uns was.«
Felix kaufte vier frittierte Obstschnitten und gab eine davon Megan. »Versuchen Sie die mal, Schwester. Die wird Ihnen schmecken.«
Und sie schmeckte köstlich! Die karge Klosterkost war nie ein Genuss, sondern stets nur Mittel zum Zweck gewesen, um die Nonnen zum Ruhme Gottes bei Kräften zu halten. Das ist endlich das Richtige für mich, dachte Me-gan respektlos.
»Dort vorn geht’s zur Arena«, sagte Jaime.
Sie ließen sich von der Menge am Park in der Stadtmitte vorbei zur Plaza Pinente schieben, die in die Plaza de Toros überging. Die Stierkampfarena selbst befand sich in einem riesigen dreigeschossigen Bau aus luftgetrockneten Ziegeln. Auf beiden Seiten des Eingangs waren je zwei Kassenschalter geöffnet. Über den linken stand Sol, über den rechten Sombra - Sonne oder Schatten. Vor den Kassen warteten Hunderte von Zuschauern, um Eintrittskarten zu kaufen.
»Ihr bleibt hier«, wies Jaime die anderen an.
Sie beobachteten, wie er zu den fünf oder sechs Schwarzhändlern hinüberging, die ebenfalls Karten anboten.
Megan wandte sich an Felix. »Sehen wir uns einen Stierkampf an?«
»Ja, aber Sie brauchen sich deswegen keine Sorgen zu machen, Schwester«, versicherte Felix ihr. »Sie werden sehen, wie aufregend er ist.«
Sorgen? Megan fand diesen Gedanken aufregend! Im Waisenhaus hatte sie manchmal davon geträumt, ihr Vater sei ein berühmter Torero, und sämtliche Stierkampfbücher verschlungen, die ihr in die Hände gefallen waren.
»Die richtigen Stierkämpfe finden in Madrid oder Barcelona statt«, fuhr Felix fort. »Hier treten keine Profis, sondern Novilleros an. Das sind Amateure, die’s noch weit zur Alternativa haben.«
Megan wusste, dass die Alternativa eine den berühmtesten Matadoren vorbehaltene Auszeichnung war.
»Die Toreros, die wir heute sehen, kämpfen in Mietkostümen gegen Stiere mit zu gefeilten, gefährlichen Hörnern, gegen die kein Profi antreten würde.«
»Weshalb tun sie das?«
Felix Carpio zuckte mit den Schultern. »Mas cornadas da el hambre. Hunger ist schmerzlicher als die Hörner.«
Jaime Miro kam mit vier Eintrittskarten zurück. »Kommt, wir gehen gleich rein«, sagte er.
Megan spürte, wie wachsende Erregung von ihr Besitz ergriff.
Auf dem Weg zu ihrem Eingang kamen sie an einem an die Außenwand der riesigen Stierkampfarena geklebten Plakat vorbei. Megan blieb stehen und starrte es an.
»Seht nur!«
Das Fahndungsplakat zeigte Jaime Miro und enthielt außer seiner Personenbeschreibung folgenden Text: Wegen mehrfachen Mordes gesucht: Jaime Miro - 500000 Ptas. Belohnung für Hinweise, die zu seiner Ergreifung führen! Als Megan das las, wurde ihr plötzlich wieder ernüchternd klar, dass sie mit einem Terroristen unterwegs war, der ihr Leben in seinen Händen hielt.
Jaime musterte sein Bild kritisch. »Nicht schlecht getroffen.« Er riss das Fahndungsplakat ab, faltete es zusammen und steckte es ein.
»Was hast du davon?« fragte Amparo ihn. »Wahrscheinlich sind Hunderte solcher Plakate aufgehängt worden.«
Jaime grinste. »Aber das hier bringt uns ein Vermögen ein, Querida.«
Welch seltsame Antwort! dachte Megan. Sie musste seine Gelassenheit widerstrebend anerkennen. Jaime Miro wirkte in jeder Lage unerschütterlich kompetent. Polizei und Militär werden ihn nie schnappen, sagte sie sich.
»Kommt, wir gehen rein.«
Zwölf in großen Abständen angeordnete Eingänge, deren nummerierte rote Eisentüren weit geöffnet worden waren, führten in die Arena. Unmittelbar dahinter befanden sich Puestos, an denen Coca-Cola und Bier verkauft wurde, und kleine Toiletten. Die steinernen Tribünen, auf denen alle Reihen und Sitze nummeriert waren, bildeten einen vollständigen Kreis um die mit Sand bestreute große Arena. Über all standen Werbetafeln: Banco Central ... Boutique Calzados... Schweppes... Radio Popu-lar...
Jaime hatte Karten für Sitze im Schatten gekauft. Während sie auf den Steinsitzen Platz nahmen, sah Megan sich verwundert um. Diese Stierkampfarena entsprach ganz und gar nicht ihren Vorstellungen. Als Mädchen hatte sie romantische Farbfotos der riesigen, prunkvollen Madrider Arena gesehen. Im Gegensatz dazu wirkte die Arena in Valladolid eher primitiv. Sie füllte sich jetzt rasch mit Zuschauern.
Ein Trompetensignal erklang. Der Stierkampf begann.
Megan beugte sich mit weit aufgerissenen Augen nach vorn. Ein riesiger Stier stürmte in die Arena, und ein Matador trat hinter der seitlichen kleinen Holzbarriere hervor und begann, das Tier zu reizen.
»Als nächstes kommen die Pikadore«, sagte Megan aufgeregt.
Jaime Miro starrte sie verwundert an. Er hatte befürchtet, ihr werde beim Stierkampf übel werden, was unerwünschte Aufmerksamkeit erregen konnte. Stattdessen schien Megan Gefallen daran zu finden. Merkwürdig.
Ein Pikador auf einem durch eine schwere gepolsterte Decke geschützten Pferd ritt an den Stier heran. Der Stier griff mit gesenktem Kopf an, und als er seine Hörner in die Decke bohrte, stieß der Pikador ihm seine Zweimeterlanze in die Schulter.
Megan verfolgte die Vorgänge in der Arena sichtlich fasziniert. »Das tut er, um die Nackenmuskeln des Stiers zu schwächen«, erklärte sie dem neben ihr sitzenden Felix, indem sie sich an all die Bücher erinnerte, die sie vor vielen Jahren verschlungen hatte.
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