»Kurioser Typ«, kommentierte ich. »Klar, dass unser guter Agliè sich darin gefällt, ihn zu verkörpern. Alter Aristokrat, ein bisschen müde geworden, muss nicht aufs Geld sehen, hat Zeit zum Reisen und eine Neigung zum Übernatürlichen.«
»Ein konsequenter Reaktionär, der den Mut hat, dekadent zu sein. Im Grunde ziehe ich ihn den demokratischen Bourgeois vor«, sagte Amparo.
»Women power, women power, und dann fällst du in Verzückung wegen einem Handkuss!«
»Ihr habt uns so erzogen, jahrhundertelang. Jetzt lasst uns wenigstens die Zeit, uns allmählich zu befreien. Ich hab schließlich nicht gesagt, dass ich ihn heiraten will.«
»Na Gott sei Dank.«
Eine Woche später rief Agliè an. Es sei soweit, heute Abend würde man uns in einem Terreiro de Candomblé empfangen. Man würde uns nicht zum Ritus zulassen, weil die Ialorixá den Touristen misstraue, aber sie selbst würde uns vorher empfangen und die Örtlichkeit zeigen.
Er holte uns im Auto ab, und wir fuhren durch die Favelas hinter den Hügeln. Das Gebäude, vor dem wir hielten, wirkte bescheiden wie eine Mietskaserne, aber am Eingang empfing uns ein alter Neger, der uns mit Weihrauch reinigte. Weiter vorn in einem schmucklosen Garten sahen wir eine Art großen flachen Korb aus Palmwedeln, auf dem einheimische Leckereien ausgebreitet waren, die comidas de santo.
Innen fanden wir einen großen Saal, die Wände bedeckt mit Bildern, vor allem Votivbildern, und afrikanischen Masken. Agliè erklärte uns die Einrichtung: hinten die Bänke für die Nichtinitiierten, an den Seiten das Podium für die Instrumente und die Sessel der Ogãs. »Die Ogãs sind angesehene Personen, nicht unbedingt Gläubige, aber den Kult respektierende Bürger. Hier in Bahia ist der große Jorge Amado Ogã in einem Terreiro. Er wurde von Iansã erwählt, der Herrin des Krieges und der Winde ...«
»Aber woher kommen all diese Gottheiten?«, fragte ich.
»Das ist eine komplizierte Geschichte. Zunächst einmal gibt es einen sudanesischen Zweig, der im Nordosten Wurzeln geschlagen hat, schon seit den Anfängen des Sklaventums, und daher kommt der Candomblé der Orixás, das heißt der afrikanischen Gottheiten. In den Staaten des Südens überwiegt der Einfluss der Bantustämme, und hier beginnen Vermischungen in Kettenreaktion. Während die Kulte im Norden den alten afrikanischen Religionen treu bleiben, entwickelt sich im Süden die ursprüngliche Macumba zum Umbanda, beeinflusst vom Katholizismus, vom Spiritismus à la Kardec und ähnlichen europäischen Okkultismen ...«
»Dann kommen heute Abend keine Templer mit rein?«
»Die Templer waren eine Metapher. Auf jeden Fall werden sie heute Abend keine Rolle spielen. Aber der Synkretismus hat eine sehr subtile Mechanik. Haben Sie vorhin draußen an der Tür, nahe den comidas de santo, eine kleine Figur aus Eisen gesehen, so eine Art Teufelchen mit Dreizack und mit Votivgaben vor den Füßen? Das ist der Exu, der im Umbanda sehr mächtig ist, aber nicht im Candomblé. Dennoch wird er auch im Candomblé verehrt, man betrachtet ihn als einen Boten, eine Art degenerierten Merkur. Im Umbanda wird man von Exu besessen, hier nicht. Aber man behandelt ihn zuvorkommend, schließlich weiß man ja nie. Sehen Sie dort an der Wand ...«, er deutete auf zwei bemalte Figuren, einen nackten Indio und einen alten, weiß gekleideten Negersklaven, der sitzend die Pfeife rauchte: »Das sind ein caboclo und ein preto velbo, Geister Verstorbener, die in den Umbanda-Riten eine sehr wichtige Rolle spielen. Was tun sie hier? Sie nehmen Ehrbezeigungen entgegen, sie werden nicht angerufen, da der Candomblé nur Beziehungen zu den afrikanischen Orixás unterhält, aber sie werden auch nicht verleugnet.«
»Was ist denn das Gemeinsame all dieser Kirchen?«
»Nun, sagen wir, kennzeichnend für alle afro-brasilianischen Kulte ist, dass während des Ritus die Initiierten besessen sind, wie in Trance, besessen von höheren Wesen. Im Candomblé von den Orixás, im Umbanda von den Geistern der Verstorbenen ...«
»Mein Gott, ich hatte mein Land und meine Rasse schon ganz vergessen«, sagte Amparo. »Ein bisschen Europa und ein bisschen historischer Materialismus haben mir alles ausgetrieben, dabei hatte ich diese Geschichten von meiner Großmutter gehört ...«
»Ein bisschen historischer Materialismus«, sagte Agliè lächelnd. »Mir scheint, ich habe davon schon gehört. Ein apokalyptischer Kult, begründet von diesem Trierer, nicht wahr?«
Ich drückte Amparos Arm. »No pasarán (Sie werden nicht siegen [Schlachtruf der Antifaschisten im spanischen Bürgerkrieg]), mi amor.«
»Cristo!«, murmelte sie.
Agliè hatte unseren halblauten Dialog mit angehört, ohne sich einzuschalten. »Die Potenzen des Synkretismus sind unbegrenzt, meine Liebe. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen auch die politische Version dieser Geschichte liefern. Die Gesetze des neunzehnten Jahrhunderts geben den Sklaven die Freiheit wieder, aber im Bemühen, die Stigmata ihrer Sklaverei loszuwerden, verbrennen die Freigelassenen alle Archive des Sklavenhandels. Die Sklaven werden der Form nach frei, haben aber nun keine Vergangenheit mehr. Infolgedessen versuchen sie, eine kollektive Identität wiederzufinden, da sie die familiäre verloren haben. Sie kehren zurück zu den Wurzeln. Das ist ihre Art, sich — wie ihr Jungen heute sagt — den herrschenden Kräften zu widersetzen.«
»Aber eben sagten Sie doch, dass sich diese europäischen Sekten da mit eingemischt haben«, sagte Amparo.
»Meine Liebe, Reinheit ist ein Luxus, und die Sklaven nehmen sich, was sie kriegen. Aber sie rächen sich. Inzwischen haben sie schon mehr Weiße eingefangen, als Sie sich träumen lassen. Die afrikanischen Kulte hatten zu Anfang die gleiche Schwäche wie alle Religionen, sie waren örtlich begrenzt, stammesgebunden und kurzsichtig. Im Kontakt mit den Mythen der Eroberer haben sie ein uraltes Wunder reproduziert: sie haben die antiken Mysterienkulte wieder zum Leben erweckt, die im zweiten und dritten Jahrhundert unserer Ära im Mittelmeerraum grassierten, zwischen einem Rom, das sich langsam zersetzte, und den Fermenten aus Persien, aus Ägypten, aus dem vorjüdischen Palästina ...In den Jahrhunderten des spätrömischen Reiches nahm Afrika die Einflüsse der gesamten mediterranen Religiosität in sich auf und bewahrte sie, verdichtete sie. Europa wurde verdorben vom Christentum der Staatsraison, Afrika konservierte ein Wissen, uralte Wissensschätze, wie schon zur Zeit der Ägypter, als es sie den Griechen schenkte, die sie dann verschluderten.«
28
Es gibt einen Leib, der die ganze Welt umspannt, und stellt ihn euch vor in Form eines Kreises, denn dies ist die Form des Alls... Nun stell dir vor, daß unter dem Kreis dieses Leibes die 36 Dekane sind, im Zentrum zwischen dem ganzen Kreis und dem Tierkreis, die beiden Kreise trennend und gleichsam den Tierkreis begrenzend, zum Tierkreis hinaufversetzt mitsamt den Planeten... Der Wechsel der Könige, die Erhebung der Städte, die Hungersnöte, die Pest, der Rückfluß des Meeres, die Erdbeben, nichts von alledem findet statt ohne den Einfluß der Dekane...
Corpus Hermeticum, Stobaeus, excerptum VI
»Aber was für ein Wissen?«
»Ist Ihnen klar, wie groß die Epoche zwischen dem zweiten und dritten Jahrhundert nach Christus war? Nicht wegen der Prunkentfaltung des Reiches, das sich schon im Niedergang befand, sondern wegen dessen, was derweilen im Mittelmeerraum florierte. In Rom schlachteten die Prätorianer ihre Kaiser ab, und im Mittelmeerraum blühte die Epoche des Apuleius, der Isis-Mysterien, jener großen Rückkehr der Spiritualität, die der Neuplatonismus und die Gnosis waren. Selige Zeiten, als die Christen noch nicht die Macht ergriffen hatten, um die Häretiker in den Tod zu schicken. Glänzende Epoche, beseelt vom nous, durchzuckt von Ekstasen, bevölkert von Präsenzen, Emanationen, Dämonen und Engelsscharen ... Es ist ein diffuses Wissen, unzusammenhängend, uralt wie die Welt, ein Wissen, das weit zurückreicht hinter Pythagoras, hinter die Brahmanen Indiens, die Juden, die Magier, die Gymnosophen und sogar hinter die Barbaren des äußersten Nordens, die Druiden Galliens und der Britannischen Inseln. Den Griechen galten die Barbaren als solche, weil sie sich nicht auszudrücken vermochten, mit diesen Sprachen, die in ihren überzüchteten Ohren wie Gebell klangen. Tatsächlich aber zeigte sich gerade in dieser Epoche, dass die Barbaren weit mehr wussten als die Hellenen, und zwar eben deshalb, weil ihre Sprache undurchdringlich war. Glauben Sie, dass diejenigen, die heute Abend tanzen werden, den Sinn all der Zauberformeln und magischen Namen kennen, die sie aussprechen werden? Zum Glück nicht, denn der unbekannte Name fungiert als Atemübung, als mystische Vokalisierung. Ah, die Epoche der Antonine ... Die Welt war voll von wunderbaren Entsprechungen und subtilen Ähnlichkeiten, man musste sie durchdringen, sich von ihnen durchdringen lassen, durch den Traum, das Orakel, die Magie, die es ermöglicht, auf die Natur einzuwirken und auf ihre Kräfte, indem man das Ähnliche mit dem Ähnlichen bewegt. Die Weisheit ist unfassbar, flüchtig, sie entzieht sich jedem Maß. Deshalb war der dominante Gott in jener Epoche Hermes, der Erfinder aller Listen und Kniffe, der Gott der Kreuzwege und der Diebe, aber auch der Schöpfer der Schrift, einer Kunst des Ausweichens und des Differenzierens, der Seefahrt, die es zum Ende aller Grenzen zieht, wo alles am Horizont verschwimmt, der Kräne, die Steine vom Boden heben, und der Waffen, die das Leben in Tod verwandeln, und der Wasserpumpen, die schwere Materie leicht werden lassen, und der Philosophie, die vorspiegelt und täuscht ... Und wissen Sie, wo Hermes heute ist? Hier, Sie haben ihn an der Tür gesehen, die Leute hier nennen ihn Exu, diesen Boten der Götter, diesen Vermittler, diesen Händler, der den Unterschied zwischen Gut und Böse nicht kennt.«
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