In dem eichengetäfelten Speisesaal, bei einem fast ungenießbaren Abendessen aus zähen Schweinekoteletts, klebrigem Kartoffelbrei und lederartigen grünen Bohnen - und unter dem wachsamen Blick des Aals -, sagte Thelma: »Was übrigens Bowmaines Frage betrifft, ob sie dir trauen könne, wenn du allein seist ... Sie hat Angst, du könntest einen Selbstmordversuch unternehmen.«
Laura starrte sie ungläubig an.
»Andere Heimkinder haben bereits welche unternommen«, erklärte Ruth ihr betrübt. »Deshalb stecken sie mindestens zwei in ein Zimmer - auch wenn es eine kleine Kammer ist. Zuviel Einsamkeit scheint zu den auslösenden Faktoren zu gehören.«
»Ruth und mir geben sie keines der kleinen Zimmer«, fuhr Thelma fort, »weil sie uns als eineiige Zwillinge für praktisch einen Menschen halten. Sie fürchten, wir könnten uns erhängen, sobald die Tür hinter uns ins Schloß gefallen ist.«
»Das ist doch lächerlich!« protestierte Laura.
»Klar ist’s lächerlich«, bestätigte Thelma. »Erhängen wäre nicht dramatisch genug. Die erstaunlichen Ackerson-Schwestern - Ruth et moi - haben eine Vorliebe fürs Dramatische. Wir würden Harakiri mit gestohlenen Küchenmessern begehen oder, wenn wir uns eine Kettensäge verschaffen könnten .«
Alle Gespräche wurden in gedämpftem Ton geführt, denn bei den Mahlzeiten gingen Aufsichtspersonen im Speisesaal auf und ab. Miss Keist, die für den zweiten Stock zuständige Heimerzieherin, kam hinter dem Tisch vorbei, an dem Laura mit den Ackersons saß, und Thelma flüsterte: »Gestapo!«
»Mrs. Bowmaine ist gutwillig«, sagte Ruth, als Miss Keith vorbei war, »aber sie macht ihre Sache einfach nicht gut. Hätte sie sich Zeit genommen, dich als Persönlichkeit kennenzulernen, Laura, hätte sie niemals Angst zu haben brauchen, du könntest Selbstmord verüben. Du bist ein Überlebenstyp.«
Thelma säbelte ein Stück vom zähen Fleisch ab. »Tammy Hinsen ist einmal mit einem Päckchen Rasierklingen im Bad erwischt worden, noch bevor sie den Mut aufgebracht hat, sich die Pulsadern aufzuschneiden.«
Laura staunte plötzlich über die Mischung aus Humor und Tragödie, Absurdem und schwarzer Realität, die ihr eigentümliches Leben im McIllroy prägte. Eben noch hatten sie miteinander gescherzt, und jetzt sprachen sie über die selbstmörderische Veranlagung eines Mädchens, das sie alle kannten. Sie erkannte, daß diese Einsicht über das hinausging, was man von einer Zwölfjährigen erwarten konnte, und beschloß, den Gedanken nach ihrer Rückkehr in ihr Zimmer in das Notizbuch einzutragen, das sie vor kurzem zu führen begonnen hatte.
Ruth war nun doch mit ihrer Portion fertig. »Vier Wochen nach dem Vorfall mit den Rasierklingen haben sie unsere Zimmer unangekündigt nach gefährlichen Gegenständen durchsucht«, berichtete sie. »Bei Tammy sind Zündhölzer und ein kleiner Kanister Feuerzeugbenzin gefunden worden. Sie wollte sich in einer der Duschkabinen mit Benzin übergießen und selbst verbrennen.«
»Großer Gott!« Laura dachte an das schmächtige Kind mit dem blassen Teint und den dunklen Ringen unter den Augen und hatte das Gefühl, Tammys geplante Selbstverbrennung habe nur dazu dienen sollen, die kleine lodernde Flamme, die sie seit langem von innen verzehrte, zum Feuer anzufachen.
»Sie haben sie für zwei Monate zu einer Intensivtherapie weggeschickt«, fügte Ruth hinzu.
»Als sie zurückkam«, sagte Thelma, »redeten alle Erwachsenen davon, wie sehr ihr Zustand sich gebessert habe, aber Ruth und mir kam sie unverändert vor.«
Zehn Minuten nach Miss Keists abendlicher Bettenkontrolle schlich Laura sich aus ihrem Zimmer. Der leere Korridor im zweiten Stock wurde lediglich durch drei Sicherheitsleuchten erhellt. Laura hastete im Schlafanzug und mit Decke und Kopfkissen unter dem Arm barfuß ins Zimmer der Ackersons.
Dort brannte nur die Lampe auf Ruths Nachttisch. »Laura, du schläfst in meinem Bett«, flüsterte Ruth. »Ich habe mir einen Schlafplatz auf dem Boden hergerichtet.«
»Kommt nicht in Frage!« wehrte Laura ab. »Ich schlafe auf dem Boden.«
Sie faltete ihre Decke zusammen, um eine Unterlage zu haben, und streckte sich quer zum Fußende von Ruths Bett mit ihrem Kissen unter dem Kopf darauf aus.
»Ihr werdet schon sehen, was für Schwierigkeiten wir deswegen kriegen«, sagte Rebecca Bogner von ihrem Bett aus.
»Wovor hast du eigentlich Angst?« fragte Thelma. »Daß sie uns auf dem Hof an Pfähle binden, mit Honig beschmieren und den Ameisen überlassen?«
Tammy stellte sich schlafend.
Ruth knipste ihre Nachttischlampe aus, und sie versuchten einzuschlafen.
Eine Minute später flog die Tür auf, die Deckenlampe wurde eingeschaltet. Miss Keist, die einen roten Morgenrock trug, kam mit finsterer Miene hereingestürmt. »Aha! Laura, was hast du hier zu suchen?«
Rebecca Bogner ächzte. »Ich hab’ euch doch gesagt, daß es Stunk gibt!«
»Komm sofort mit zurück auf dein Zimmer, junge Dame!«
Die Promptheit, mit der Miss Keist erschienen war, war zu verdächtig, und Laura schaute zu Tammy Hinsen hinüber. Die Blondine stellte sich nicht mehr schlafend, sondern stützte sich schwach lächelnd auf einen Ellbogen. Sie hatte offenbar beschlossen, dem Aal bei seiner Jagd auf Laura behilflich zu sein
- vielleicht in der Hoffnung, ihre Position als Favoritin zurückzugewinnen.
Miss Keist eskortierte Laura in ihr Zimmer. Laura schlüpfte ins Bett, und die Erzieherin starrte sie einen Augenblick an. »Es ist warm. Ich mache das Fenster auf.« Sie trat wieder ans Bett und studierte Laura nachdenklich. »Möchtest du mir irgendwas erzählen? Ist irgendwas nicht in Ordnung?«
Laura überlegte, ob sie ihr von Sheener erzählen sollte. Aber was, wenn Miss Keist den Aal dabei ertappen wollte, daß er sich in ihr Zimmer schlich, und er in dieser Nacht nicht auf-kreuzte? Dann würde Laura ihn später nie wieder beschuldigen können, weil sie ihn schon einmal fälschlich beschuldigt hatte. Niemand würde ihr mehr glauben; selbst wenn Sheener sie vergewaltigte, würde er ungestraft davonkommen.
»Nein, alles ist in Ordnung«, sagte sie.
»Deine Freundin Thelma ist viel zu altklug, viel zu sehr von sich selbst überzeugt«, behauptete Miss Keist. »Wenn du dumm genug bist, nochmals gegen die Heimordnung zu verstoßen, nur um eine Nacht lang schwatzen zu können, dann such dir lieber Freundinnen, für die sich’s lohnt, das zu riskieren.«
»Ja, Ma’am«, sagte Laura, nur um sie loszuwerden. Sie bedauerte, auch nur daran gedacht zu haben, auf die vorübergehende Besorgnis der Erzieherin einzugehen.
Nachdem Miss Keist gegangen war, verließ Laura nicht sofort ihr Bett und flüchtete. Sie blieb in der Dunkelheit liegen, weil sie sicher war, daß in einer halber Stunde eine weitere Bettenkontrolle stattfinden würde. Der Aal würde sich garantiert nicht vor Mitternacht heranschlängeln, und da es erst 22 Uhr war, hatte Laura zwischen Miss Keists nächster Kontrolle und Sheeners Eintreffen reichlich Zeit, sich in Sicherheit zu bringen.
In weiter, weiter Ferne erklang Donnergrollen. Sie setzte sich im Bett auf. Ihr Beschützer! Laura schlug die Bettdecke zurück und lief ans Fenster. Sie sah keine Blitze. Der ferne Donner verhallte. Vielleicht war’s gar kein Donner gewesen. Sie wartete noch zehn Minuten, ohne daß irgend etwas geschah. Dann kehrte sie enttäuscht in ihr Bett zurück.
Kurz nach 22.30 Uhr knarrte die Türklinke. Laura schloß die Augen, ließ ihren Mund offen und spielte die Schlafende.
Jemand kam leise herein, durchquerte den Raum und blieb neben dem Bett stehen.
Laura atmete langsam, tief und regelmäßig, aber das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Es war Sheener. Sie wußte, daß er’s war. O Gott, sie hatte vergessen, daß er verrückt, daß er unberechenbar war, und jetzt war er früher als erwartet hier und bereitete die Betäubungsspritze vor. Er würde sie in einen Rupfensack stopfen und davonschleppen, als wäre er ein geistesgestörter Weihnachtsmann, der kam, um Kinder zu stehlen, anstatt ihnen Geschenke zu bringen.
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