»Deinem Gesichtsausdruck entnehme ich, dass dir inzwischen aufgegangen ist, wo du dich befindest.« Die Stimme klang ganz ruhig. Jemand trat aus den Schatten und blieb, an Littlewoods Schreibtisch gelehnt, etwa anderthalb Meter vor ihm stehen.
Littlewoods Blick fixierte die große Gestalt. Seine Verwirrung wurde immer größer.
»Wir sind hier in deiner Praxis. Vierter Stock. Dicke Fensterscheiben. Massive Wände. Vier Fenster, die alle nach hinten rausgehen. Draußen ist das große Wartezimmer, und erst von da aus kommt man zur Tür in den Flur.« Eine Pause und ein Schulterzucken. »Du kannst gerne schreien, aber niemand wird auch nur einen Piep hören.«
Erneut hustete Littlewood im Versuch, den widerlichen Geschmack in seinem Mund loszuwerden. »Ich kenne Sie.« Seine Stimme war leise und kratzig. In jedem seiner Worte schwang Furcht mit.
Erneut ein Schulterzucken, diesmal begleitet von einem Lächeln. »Nicht so gut wie ich dich.«
Littlewood war noch immer zu benommen. Ihm wollte kein Name zu dem Gesicht einfallen. »Was? Was soll das alles?«
»Zum Beispiel weißt du nicht, dass ich … der Kunst fröne.« Eine wohlüberlegte Pause. »Und genau deswegen bin ich hier. Um ein Kunstwerk aus dir zu machen.«
»Was?« Erst jetzt sah Littlewood, dass die Gestalt vor ihm einen durchsichtigen Overall aus dicker Plastikfolie mit Kapuze und Latexhandschuhe trug.
»Aber eigentlich spielt es keine große Rolle, was du über mich weißt. Viel wichtiger ist, was ich über dich weiß.«
»Was?« Der Nebel der Verwirrung verdichtete sich, und Littlewood begann sich zu fragen, ob das alles vielleicht bloß ein schlimmer Traum war.
»Zum Beispiel«, fuhr die Gestalt fort, »weiß ich, wo du wohnst. Ich weiß von deiner schrecklichen Ehe damals. Ich weiß, wo dein Sohn studiert. Ich weiß, was du machst, wenn du mal ein bisschen Dampf ablassen willst. Ich weiß, was dich im Bett geil macht und wohin du gehst, um es dir zu besorgen. Je schmutziger, desto besser, ist es nicht so?«
Wieder musste Littlewood husten. Speichel lief ihm übers Kinn.
»Aber was am allerwichtigsten ist … Ich weiß, was du getan hast .« Jetzt bebte die Stimme vor nackter Wut.
»Ich … ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«
Die Gestalt machte einen Schritt nach links, und im Licht der Stehlampe blitzte etwas auf dem Schreibtisch auf. Littlewood konnte nicht genau erkennen, was es war, er sah nur, dass es sich um mehrere Gegenstände aus Metall handelte. Eine schreckliche Angst erfasste jeden Zentimeter seines Körpers.
»Das macht nichts. Ich werde deine Erinnerung im Laufe des Abends auffrischen.« Ein abfälliges Lachen. »Und es wird für dich ein sehr, sehr langer Abend werden.« Die Gestalt nahm einen der Gegenstände vom Schreibtisch und kam damit auf Littlewood zu.
»Warten Sie. Wie heißen Sie? Kann ich bitte etwas Wasser haben?«
Die Gestalt blieb dicht vor Littlewood stehen und lachte höhnisch. »Was? Willst du allen Ernstes versuchen, mich mit deiner Psychologenscheiße zu manipulieren? Wie geht das noch? Warte mal … ach ja … Appellieren Sie an die menschliche Seite des Aggressors, indem Sie ihn um etwas ganz Einfaches bitten, zum Beispiel ein Glas Wasser oder darum, die Toilette benutzen zu dürfen. Die meisten Menschen reagieren auf die Not anderer automatisch mit Verständnis und Anteilnahme. Du willst mich mit meinem Namen anreden? Wer weiß, vielleicht rede ich dich ja mit deinem an – was das Opfer in den Augen des Aggressors menschlicher erscheinen lässt. Es wird von einem bloßen Opfer zu einer Person, einem Individuum, das Gefühle und ein Herz hat. Zu jemandem, mit dem sich der Aggressor möglicherweise identifizieren kann. Zu jemandem, der außerhalb des gegebenen Kontextes dem Aggressor sehr ähnlich sein könnte, weil er wie er Freunde hat, eine Familie, alltägliche Sorgen und Nöte. « Wieder ein Lachen. »Man muss an das Humane in uns appellieren, stimmt’s? In der Regel fällt es Menschen schwerer, jemandem ein Leid zuzufügen, zu dem sie eine persönliche Beziehung aufgebaut haben. Versuchen Sie daher, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Selbst eine scheinbar belanglose Unterhaltung kann eine große Wirkung auf die Psyche des Aggressors haben.«
Littlewood sah auf. Entsetzen spiegelte sich in seinem Blick.
»Stell dir vor, ich habe dieselben Bücher gelesen wie du. Und ich kenne mich mit der Psychologie von Geiselnahmen aus. Bist du sicher, dass du die Nummer bei mir abziehen willst?«
Littlewood schluckte trocken.
»Das Gebäude ist leer. Wir haben Zeit. Vor morgen früh wird niemand auch nur draußen an deiner Tür vorbeilaufen. Vielleicht können wir uns unterhalten, während ich arbeite, was hältst du davon? Willst du es mal versuchen? Vielleicht ein bisschen Mitgefühl in mir wachkitzeln?«
In Littlewoods Augen brannten Tränen.
»Ich würde sagen, wir fangen jetzt an.«
Ohne weitere Vorwarnung packte die Gestalt Littlewoods nackte Brustwarze mit einer chirurgischen Zange, drehte und zog so heftig daran, dass sie fast abriss.
Littlewood stieß einen gellenden Schrei aus. Erneut spürte er, wie ihm die Galle in den Mund schoss.
»Ich hoffe wirklich, dass du unempfindlich bist. Das Ding hier ist nicht besonders scharf.« Die Gestalt hatte einen zweiten Gegenstand vom Tisch genommen, ein kleines gezacktes Messer. Es sah alt und stumpf aus.
»Aber schrei ruhig, wenn es weh tut.«
»O Gott, b…, b…, bitte tun Sie das nicht. Ich flehe Sie an, ich …«
Littlewoods nächste Worte verwandelten sich in einen markerschütternden Schrei, als die Gestalt begann, ihm langsam die Brustwarze abzuschneiden.
Littlewood war kurz davor, ohnmächtig zu werden. Er konnte nicht begreifen, was passierte. Er wollte um jeden Preis glauben, dass das, was ihm da gerade widerfuhr, nicht real war. Es konnte nicht real sein. Er musste sich in einer bizarren Traumwelt befinden. Das war die einzig logische Erklärung. Doch der Schmerz, der seine von Blut und Erbrochenem verschmierte Brust durchfuhr, war nur allzu real.
Die Gestalt legte das stumpfe Messer weg und betrachtete eine Zeitlang die blutende Wunde. Sie wartete, bis Littlewood sich wieder einigermaßen gefangen hatte.
»Sosehr ich das auch genossen habe«, verkündete die Gestalt, »ich glaube doch, dass ich jetzt gerne etwas anderes ausprobieren würde. Das könnte noch ein bisschen mehr weh tun.«
Die Worte weckten eine derart abgrundtiefe Furcht in Littlewood, dass sich sein ganzer Körper versteifte. Er spürte, wie die Muskeln in seinen Armen und Beinen so hart wurden, dass sie krampften und er völlig gelähmt dasaß.
Die Gestalt machte einen Schritt auf ihn zu.
Littlewood kniff die Augen zu, und obwohl er kein religiöser Mensch war, fing er an zu beten. Sekunden später stach ihm ein Geruch in die Nase. Ein unglaublich penetranter, beißender Geruch. Ein Geruch, bei dem er sich auf der Stelle wieder übergeben wollte. Doch in seinem Magen war nichts mehr, was er hätte erbrechen können.
Dem Geruch folgte fast augenblicklich ein unerträglicher Schmerz. Erst jetzt wurde Littlewood klar, dass seine Haut und sein Fleisch verbrannten.
Der Anruf erreichte Hunter vormittags auf dem Handy, als er gerade in seinen Wagen stieg. Er hatte erneut beide Tatorte besichtigt – Nicholsons Haus und Dupeks Boot. Noch immer war er auf der Suche nach etwas, von dem er nicht einmal wusste, ob es überhaupt existierte.
»Carlos, was gibt’s?«, fragte er, das Handy am Ohr.
»Leiche Nummer drei.«
Als Hunter an dem viergeschossigen Bürogebäude in Silver Lake ankam, sah es dort aus wie bei einem Popkonzert: Eine riesige Menschenmenge hatte sich hinter der Polizeiabsperrung zusammengeschart. Und niemand würde sich auch nur einen Zentimeter vom Fleck bewegen, ehe er nicht wenigstens einen kurzen Blick auf etwas Schauerliches erhascht hatte.
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