Der Kellner kam an ihren Tisch, um das Geschirr abzuräumen. Hunter wartete, bis er sich, die Teller gekonnt auf den Armen balancierend, entfernt hatte.
»Meiner Ansicht nach ist der Sprung von der ersten zur zweiten Interpretation zu groß. Sie ergibt ganz einfach nicht viel Sinn.«
Alice machte große Augen. »Sinn? Was an diesem Fall ergibt schon einen Sinn, Robert? Wir haben es mit einem geistesgestörten Egomanen zu tun, der Leute in Stücke hackt und Skulpturen aus ihrem Fleisch macht, um uns irgendwelche verrückten Botschaften zu übermitteln. Wie um alles in der Welt kann man da von Sinn reden?«
Hunter warf hastig einen Blick zu den Nachbartischen, um zu sehen, ob jemand Alice gehört hatte. Vor lauter Erregung war ihre Stimme um einige Dezibel lauter geworden. Die anderen Gäste jedoch schienen weit mehr auf ihr Essen und ihren Wein konzentriert als auf die Unterhaltung Fremder. Er drehte sich wieder um.
»Für uns ergibt es keinen Sinn, weil wir ihn noch nicht entschlüsselt haben. Für den Täter aber schon. Sonst würde er es ja nicht machen.«
Alice dachte schweigend nach. »Das ist es, was du die ganze Zeit versuchst, oder? So zu denken wie er. Den Sinn zu sehen, den nur er sehen kann.«
»Tja, es ist schon eine Woche um. Bis jetzt habe ich wohl kläglich versagt.«
»Nein, das hast du nicht.« Sie legte eine Hand auf den Tisch, und ihre Fingerspitzen streiften dabei Hunters Handrücken. »Du hast viel mehr erreicht als erwartet. Wenn du nicht wärst, würden wir immer noch mit rauchenden Köpfen vor diesen Skulpturen sitzen.«
Hunter sah Alice an. »Hast du mir gerade ein Kompliment gemacht?«
»Nein, ich habe lediglich die Wahrheit gesagt. Aber was hast du eben damit gemeint, der Sprung zwischen der ersten und der zweiten Interpretation ist zu groß?«
»Würden Sie gerne einen Blick in die Dessertkarte werfen?« Der Kellner war wieder aufgetaucht.
Alice schüttelte den Kopf, ohne ihn anzusehen. Hunter schenkte ihm ein freundliches Lächeln.
»Ich glaube, wir sind nach der Hauptspeise schon voll. Wir haben keinen Platz mehr für Nachtisch, vielen Dank.«
» Prego «, erwiderte der Kellner und ging seiner Wege.
»Was für ein Sprung?«, beharrte Alice.
»Wenn wir mit unserer Deutung des ersten Schattenbildes richtigliegen, dann hat uns der Täter darin seine persönliche Meinung von Derek Nicholson mitgeteilt, richtig? Er hält ihn für einen Lügner.«
Alice lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Ganz allmählich fügten sich die Gedanken in ihrem Kopf zusammen.
»Und wenn wir mit unserer Deutung des zweiten Bildes auch richtigliegen, dann hat uns der Killer darin eben nicht seine Meinung über Andrew Dupek mitgeteilt.«
Alice begriff. »Sondern über sich selbst – er ist ein zorniger Teufel, der auf seine Opfer herabschaut.«
Hunter nickte. »Ja, und mir fällt kein Grund ein, weshalb er das machen sollte. Es kommt mir einfach verkehrt vor. Der Täter will, dass wir seine Motive nachvollziehen. Dass wir verstehen, warum er diese Leute umbringt. Uns wissen zu lassen, dass er Nicholson für einen Lügner hält, weil er vielleicht von ihm hintergangen wurde, macht in dem Kontext Sinn.«
»Aber uns wissen zu lassen, dass er selbst ein Teufel ist, der auf Rache sinnt – das macht keinen Sinn?«
»Findest du, es macht einen?«
Sie hob für einen Moment die Augenbrauen. »Nein«, musste sie schließlich einräumen. »Also glaubst du, dass er mit dem zweiten Bild in Wirklichkeit etwas über Dupek aussagen will?«
»Möglich wär’s.«
»Aber was? Dass Dupek ein Teufel war? Dass jemand ihn gehörnt hat? Und was ist mit den anderen vier Gestalten, den zwei stehenden und den zwei liegenden? Was zum Geier bedeuten die?«
Darauf wusste Hunter keine Antwort.
Seine Lider flatterten wie die Flügel eines Schmetterlings – eines schwer verletzten Schmetterlings. Sie schienen eine Tonne zu wiegen, und so kostete es Nathan Littlewood mehrere Sekunden und gewaltige Kraftanstrengung, sie zur Hälfte zu öffnen und daran zu hindern, gleich wieder zuzufallen. Lichtsplitter bohrten sich in seine Augäpfel. Als er Luft holte, brannten seine Lungen, als hätte er Schwefelsäure eingeatmet. Was auch immer man ihm in den Hals gespritzt hatte, die Wirkung ließ allmählich nach.
Das Kinn sackte ihm auf die Brust. Sein Kopf war so schwer, dass er ihn nicht wieder heben konnte. So verharrte er eine ganze Weile. Erst dann fiel ihm auf, dass er, bis auf seine gestreiften Boxershorts, die ihm schweißgetränkt an der Haut klebten, nackt war. Ein weiterer Moment verstrich, bis er begriffen hatte, in was für einer Position er war. Er saß auf einem bequemen Leder-Bürosessel. Seine Hände waren hinter der Rückenlehne mit etwas Hartem, Dünnem gefesselt, das ihm in die Haut schnitt. Seine Füße befanden sich unterhalb der Sitzfläche einige Zentimeter über dem Boden. Auch sie waren zusammengebunden. Er hatte am ganzen Leib Schmerzen, als wäre er brutal zusammengeschlagen worden, und das Pochen in seinem Kopf machte ihn fast rasend.
Er spürte ein Ziehen in den Mundwinkeln, und plötzlich hatte er Angst, keine Luft mehr zu bekommen. Ein Husten explodierte mit ungeheurer Kraft in seiner Brust, doch wegen des festen Stoffknebels in seinem Mund konnte der Druck nicht entweichen. Das machte den Würgereiz nur noch stärker. Littlewood schmeckte Galle vermischt mit Blut, und aus dem Husten wurde ein verzweifelter Kampf gegen das Ersticken.
Atme durch die Nase , schoss es ihm durch den Kopf. Er versuchte sich darauf zu konzentrieren, aber er hatte Angst, und die Schmerzen vernebelten ihm die Sinne. Seine Selbstbeherrschung ließ ihn im Stich. Littlewood brauchte mehr Luft, er brauchte unbedingt mehr Luft. Instinktiv atmete er erneut tief durch den Mund ein. Dabei sog er die Mischung aus Galle und Blut, die sich unter seiner Zunge gesammelt hatte, in den Hals. Sie blockierte seine Luftröhre.
Nackte Panik.
Seine Augen rollten in ihren Höhlen zurück. Der Inhalt seines Magens schoss wie eine Rakete durch seine Speiseröhre nach oben, doch gleichzeitig war es für ihn, als geschehe alles in Zeitlupe. Sein Körper erschlaffte. Das Leben verließ ihn.
Er schmeckte den sauren Geschmack von Erbrochenem, und keinen Sekundenbruchteil später flutete eine warme, klumpige Flüssigkeit seinen Mund. Genau in diesem Moment gab sein Knebel nach und fiel herab, als hätte ihn jemand an seinem Hinterkopf durchgeschnitten.
Littlewood erbrach sich in seinen Schoß. Aber er konnte jetzt atmen. Das war die gute Nachricht.
Er hustete und spuckte lange und schnappte danach verzweifelt nach Luft, um seine Lungen mit Sauerstoff zu füllen und sich gleichzeitig zu beruhigen. Sein Körper zog sich wie in einem Krampf zusammen, als ihm zwei Dinge klar wurden. Erstens: Er war soeben um Haaresbreite dem Tod entronnen; zweitens: Er war trotzdem nach wie vor an einen Bürostuhl gefesselt und hatte keine Ahnung, was los war.
Eine Bewegung zu seiner Linken. Erschrocken riss Littlewood den Kopf herum. Da war jemand, aber wegen der Dunkelheit konnte Littlewood ihn nicht sehen.
»Hallo?«, sagte er. Seine Stimme war so schwach, dass er nicht wusste, ob jemand außer ihm selbst sie überhaupt hören konnte.
Noch ein paar verzweifelte Atemzüge. Er musste sich zusammenreißen.
»Hallo?«, versuchte er es erneut.
Keine Antwort.
Littlewood blickte sich um. Er sah eine Wand voller ledergebundener Bücher, auf der anderen Seite des Raums eine Stehlampe neben einem großen Schreibtisch. Sie war die einzige Lichtquelle im Raum. Er drehte sich nach rechts, und sein Blick fiel auf einen bequemen braunen Ledersessel. Wenige Meter davor die Behandlungscouch – seine Behandlungscouch. Er war in seiner eigenen Praxis.
Читать дальше