»Die Zunge haben wir in der Kloschüssel gefunden«, meldete sich Corbí von der Tür her.
Titos Kehle war über die gesamte Breite seines Halses aufgeschlitzt. Das Blut war ihm über Brust, Bauch und Beine gelaufen.
»Laut Spurensicherung«, warf Ellison ein, »gibt es keine sichtbaren Verletzungen an der Leiche, was bedeutet, dass er nicht zusammengeschlagen wurde. Er wurde einfach nur ins Bad gezerrt und wie ein Stück Vieh abgeschlachtet. Kein Blut irgendwo sonst in der Wohnung.«
»Drogen?«, fragte Garcia.
»Das wird die Autopsie zeigen, aber es würde mich nicht wundern, wenn er zur Tatzeit dicht wie ein U-Boot gewesen wäre. An dem kleinen Spiegel auf dem Tisch im Wohnzimmer sind Reste von Kokain.«
»Das Schlafzimmer ist ein Saustall«, redete Corbí weiter. »Es stinkt nach dreckiger Wäsche, ungewaschenen Körperteilen und Gras. Aber wenn ich mir den Rest der Wohnung so anschaue, glaube ich nicht, dass wir das dem Täter zu verdanken haben. Ich glaube, er hat aus freien Stücken wie ein Schwein gehaust. Außerdem haben wir Marihuana im Schlafzimmer gefunden, ein ganzes Kilo, zusammen mit ein paar Crack-Pfeifen. Wenn der Täter nach irgendwas gesucht hat, dann hat er es höchstwahrscheinlich in der kleinen silbernen Dose im Wohnzimmer gefunden, ob es nun Drogen waren oder nicht.« Er wartete, bis Hunter und Garcia das Bad verlassen hatten. »Ich werde Sie nicht fragen, was für Informationen Sie von diesem Tito haben wollten. Das ist Ihre Angelegenheit, und ich werde mich bestimmt nicht in die Ermittlungen von Kollegen einmischen, aber gibt es irgendwas, was Sie uns über das Opfer sagen können, das uns bei den Ermittlungen weiterhelfen könnte?«
Hunter war klar, dass er Corbí und seiner Partnerin gegenüber nicht Ken Sands’ Namen erwähnen durfte. Corbí würde sofort die Fahndung nach ihm einleiten und überall die Fühler ausstrecken. Immer mehr Leute auf der Straße würden erfahren, dass Sands gesucht wurde, und folglich würde auch die Wahrscheinlichkeit steigen, dass dieser Wind davon bekam und untertauchte. Das durfte Hunter nicht riskieren. Er musste lügen.
»Leider kann ich Ihnen nichts weiter sagen«, antwortete er.
Corbí beobachtete aufmerksam Hunters Miene und Verhalten und sah darin nichts, was seine Antwort als Lüge entlarvt hätte. Falls es ein Pokerface war, dann war es das beste Pokerface, das Corbí je gesehen hatte. Er wandte sich an Ellison, die mit den Schultern zuckte.
»Also gut«, meinte Corbí und rückte sich die Krawatte zurecht. »Dann gibt es hier für Sie wohl nichts mehr zu sehen.«
Die Sonne draußen briet Menschen und Autos gleichermaßen. Garcia holte seine Sonnenbrille aus der Hemdtasche und rieb sich mit der Hand den Nacken. Als er sie wegzog, war sie klatschnass. Neben der Fahrertür stehend, schaute er über das Dach seines Honda Civic hinweg zu Hunter.
»Also, wenn Sands derjenige war, der Tito erledigt hat, dann sieht es nicht so aus, als wäre er unser Mann, oder?«
Hunter erwiderte den Blick seines Partners. »Und wieso nicht?«
»Völlig andere Handschrift, zum einen. Okay, er hat ihm die Zunge rausgerissen, aber verglichen mit dem Sadismus der Amputationen bei den anderen zwei Mordopfern ist das, was da oben passiert ist, der reinste Kindergeburtstag. Plus, es gab keine Skulptur und keine Schattenfiguren.«
Hunter stellte die Ellbogen aufs Autodach und verschränkte die Finger ineinander. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt war er geneigt, Garcia zuzustimmen, aber noch gab es zu viele offene Fragen, und seine innere Stimme sagte ihm, dass es ein großer Fehler wäre, Ken Sands allzu früh als Verdächtigen auszuschließen. »Wenn du dir vergegenwärtigst, was wir bis jetzt über ihn wissen, glaubst du dann nicht, dass Sands intelligent genug wäre, um seine Vorgehensweise für eine Tat, die mit den anderen in keinerlei Zusammenhang steht, zu ändern?«
»In keinerlei Zusammenhang?« Garcia öffnete die Zentralverriegelung und stieg ein.
Hunter schwang sich auf den Beifahrersitz.
Garcia startete die Zündung und schaltete die Klimaanlage ein. »Was meinst du damit, in keinerlei Zusammenhang?«
Hunter lehnte sich von innen gegen die Beifahrertür. »Also. Lass uns mal für einen Moment lang annehmen, dass wir bis jetzt mit allem recht hatten und dass Ken Sands tatsächlich der Täter ist.«
»Okay.«
»Eine unserer Annahmen ist, dass Sands seine Opfer aus Rache tötet, nicht nur für sich selbst, sondern auch für seinen Jugendfreund Alfredo Ortega. So weit richtig?«
Garcia nickte. »Ja.«
»Okay, und wie passt Tito in dieses Racheszenario?«
Garcia sah einen Moment lang nachdenklich aus.
»Denk dran, Tito hat gesagt, er hätte während seiner Zeit in Lancaster nie mit Sands gesprochen. Es gab also keinen alten Zwist zwischen ihnen.«
Garcia kniff sich in die Unterlippe. »Er passt nicht rein.«
»Eben. Falls Sands unser Mann ist und er Tito umgebracht hat, dann nicht, weil Tito Teil seines ursprünglichen Plans gewesen wäre, sondern wahrscheinlich deshalb, weil Tito sich nach ihm erkundigt hat. Auf die falsche Art oder bei den falschen Leuten.«
»Aber Mörder ändern doch normalerweise nicht ihre Handschrift, es sei denn, es kommt zu einer Eskalation.« Garcia deutete auf das Haus. »Und da ist das genaue Gegenteil passiert. Erst ist er geradezu bizarr sadistisch und kreativ, und jetzt …«, er suchte nach einem passenden Ausdruck, »… einfach nur noch eklig.«
»Auch das hängt damit zusammen, dass Tito nicht Teil seines Racheplans war. Denk nach, Carlos. Für unseren Täter ist die Vorgehensweise von extremer Wichtigkeit – die Art, wie er seine Opfer zerstückelt, wie er ihre Körperteile danach wieder sorgfältig zusammenfügt und aus ihnen Skulpturen anfertigt, die jedes Mal ein anderes Schattenbild an die Wand werfen. Für ihn ist all das absolut unverzichtbar. Es hat nichts Beliebiges an sich, er macht das nicht bloß aus Spaß. Es ist genauso wichtig wie das Töten selbst und die Wahl seiner Opfer. Es ist elementarer Bestandteil seiner Rache. Und ich habe keinen Zweifel, dass es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Skulptur, dem Schattenbild und dem jeweiligen Opfer gibt. Der Täter hat nicht ohne Grund für Nicholson den Kojoten und den Raben gewählt und für Dupek einen Teufel, der auf vier Gestalten hinunterblickt.«
»Und Tito hatte mit all dem gar nichts zu tun«, sagte Garcia.
Hunter nickte.
»Aber wir sind uns immer noch nicht im Klaren darüber, was denn nun die wahre Bedeutung hinter den Schattenbildern ist«, fuhr Garcia fort. »Und wenn du recht hast und jedes Schattenbild in direkter Verbindung zum Opfer steht, dann gibt es da noch was, das in meinen Augen nicht schlüssig ist.«
»Nämlich?«
»Beim ersten Schattenbild hat der Mörder sehr auf Details geachtet, er hat die Gliedmaßen des Opfers so verformt und angeordnet, dass nicht viel Raum für Zweifel blieb. Du hast es selbst gesagt, durch den gebogenen, dicken Schnabel waren die meisten Vogelarten von vorneherein ausgeschlossen, so dass gar nicht mehr viele Möglichkeiten übrigblieben. Beim zweiten Schattenbild war er lange nicht so präzise. Man kann nicht erkennen, ob es ein menschliches Gesicht mit Hörnern ist, ein Teufel, eine Gottheit oder irgendein Tier. Die zwei stehenden Gestalten und die beiden liegenden könnten Menschen sein, aber sie könnten genauso gut auch was anderes sein. Warum macht er das? Warum ist er beim ersten Schattenbild so genau und beim zweiten dann nicht mehr?«
Hunter rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Mir fällt nur ein Grund ein: Relevanz.«
Garcia verzog den Mund und hob die Hände. »Relevanz?«
»Ich glaube, der Grund, weshalb unser Täter so viel Sorgfalt auf sein erstes Schattenbild verwendet hat, ist, dass es wichtig war. Er wollte, dass es bei der Identifikation des Bildes keinen Raum für Fehler gibt. Er wollte verhindern, dass wir denken, es handelt sich um einen Hund und eine Taube oder um einen Fuchs und eine Eule.«
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