Detective Ricky Corbí und seine Partnerin, Detective Cathy Ellison, standen vor der Wohnung im Hausflur. Drei weitere Polizisten in Uniform waren mit der routinemäßigen Befragung der Nachbarn beschäftigt.
»Detective Corbí?«, fragte Hunter, als er aus dem schlecht beleuchteten Treppenaufgang trat.
Der große Afroamerikaner drehte sich zu Hunter um. Er war etwa fünfzig Jahre alt, hatte ein verkniffenes Gesicht und kurzgeschnittene Haare mit einer Spur Grau darin. Er trug eine Hornbrille, einen braunen Anzug, und seiner Figur nach zu urteilen hatte er früher vermutlich Football gespielt. Er sah immer noch sehr durchtrainiert aus.
»Das wäre dann wohl ich«, sagte er in sattem Bariton. »Und so, wie Sie zwei aussehen, müssen Sie die Leute von Mord I sein.« Er streckte ihnen die Hand hin. »Detective Hunter, nehme ich an.«
Hunter nickte. »Nennen Sie mich Robert.« Corbís Händedruck war fest und kräftig. Er winkelte die Hand dabei leicht nach unten ab, was, so wusste Hunter aus Erfahrung, in der Regel das Erkennungsmerkmal einer dominanten Persönlichkeit war. Corbí stellte von Anfang an klar, dass er derjenige war, der hier das Sagen hatte. Nicht, dass Hunter die Absicht gehabt hätte, ihm seine Autorität streitig zu machen.
»Nennen Sie mich Ricky. Das hier ist meine Partnerin, Detective Cathy Ellison.«
Ellison trat vor und begrüßte Hunter und Garcia. Ihr Händedruck war fast genauso stark wie der von Corbí. Sie war etwa eins fünfundsechzig groß, schlank mit leicht hängenden Schultern, und hatte kurze, stufig geschnittene dunkle Haare. In ihrem Blick lag die Intensität eines Menschen, der seine Arbeit sehr ernst nahm. »Cathy«, sagte sie und unterzog die beiden Detectives einer flüchtigen Musterung.
»Ich habe es Ihnen ja schon am Telefon gesagt. Der Grund, weshalb ich Sie angerufen habe, ist, dass wir das hier im Wohnzimmer des Opfers gefunden haben«, sagte Corbí mit einem Nicken in Richtung Wohnungstür. Er reichte Hunter eine Visitenkarte. »Das ist doch Ihre?«
Hunter nickte.
Corbí langte in seine Brusttasche und holte sein Notizbuch hervor. »Thomas Lynch, auch bekannt als Tito. Er war seit elf Monaten auf Bewährung draußen, hat vorher in Lancaster eingesessen. Seiner Akte zufolge« – Corbí wandte sich an Garcia – »waren Sie derjenige, der ihn vor sieben Jahren verhaftet und ihn zu einem Geständnis bewegt hat.« Er hielt inne und überlegte kurz. »Oder sollte ich besser sagen: Sie waren derjenige, der ihn dazu bewegt hat, sich auf einen Deal einzulassen. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass er seit seiner Freilassung so was wie Ihr Informant gewesen ist.«
»Nicht wirklich«, sagte Garcia.
Corbí fixierte ihn mit stechendem Blick. »Dann ein Freund?«
»Nicht wirklich.«
Corbí nickte, nahm seine Brille ab, hauchte auf beide Gläser und polierte sie mit dem Zipfel seiner blauen Krawatte.
»Wollen Sie mich dann vielleicht darüber aufklären, wie er an Ihre Visitenkarte gekommen ist? Eine schöne, neue Visitenkarte wohlgemerkt.«
Den letzten Satz sagte er mit leicht spöttischem Unterton.
Garcia hielt Corbís Blick stand. »Wir haben vor kurzem Kontakt zu ihm aufgenommen, weil wir eine Auskunft von ihm brauchten – aber er war kein Informant«, fügte er hinzu, ehe Corbí die Chance hatte, einzuhaken. »Er war lediglich jemand, der auf einer Liste von Namen aufgetaucht ist.«
Ricky Corbí war erfahren genug, um zu wissen, dass Garcia nicht aus bloßer Sturheit mauerte. Er sagte ihm ganz einfach das, was er zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu sagen bereit war. Weiter nachzubohren wäre zwecklos. Er nickte Garcia kaum merklich zu.
»Können Sie mir sagen, wann Sie ihn zuletzt gesehen haben?«, wollte Ellison nun wissen.
»Gestern Nachmittag«, antwortete Hunter.
Corbí und Ellison tauschten einen erstaunten Blick.
»Nach Aussagen des Leichenbeschauers wurde Ihr Junge irgendwann letzte Nacht ermordet.« Corbí setzte seine Brille wieder auf. »Genauer, in den frühen Morgenstunden. Die Leiche wird gerade für den Transport fertig gemacht. Wenn Sie vorher noch einen Blick drauf werfen wollen …«
Hunter und Garcia nickten.
»Ich habe keine Ahnung, mit wem er sich gestern Nacht angelegt hat«, setzte Corbí hinzu, während er den beiden je ein Paar Latexhandschuhe und Schuhüberzieher reichte. »Aber wer auch immer es war, er hat bei diesem Tito ganze Arbeit geleistet. Da drinnen erwartet uns ein echtes Kunstwerk.«
Corbí und Ellison betraten, gefolgt von Hunter und Garcia, das Apartment Nummer 311. Zusammen mit den vier Leuten von der Spurensicherung wurde das kleine Wohnzimmer zur Sardinenbüchse.
»Was ist da drin?«, fragte Hunter und wies auf die silberne Dose auf dem Esstisch.
»Jetzt nichts mehr«, antwortete Corbí. »Aber da waren mal Drogen drin – Kokain, um genau zu sein. Nur ganz wenig verschnitten. Wahrscheinlich erstklassige Qualität. Das Labor wird das noch bestätigen. Erste Anzeichen deuten darauf hin, dass der, der ihn getötet hat, auch die Drogen hat mitgehen lassen.«
»Sie glauben, Drogen waren das Motiv für den Mord?«, fragte Garcia.
»Wer weiß das schon zu diesem Zeitpunkt?«, gab Ellison zurück.
»Wer hat die Sache gemeldet?«
»Ein völlig verschrecktes Mädchen. Hat keinen Namen genannt. Sie klang sehr jung.«
»Wann war das? Wann kam der Notruf rein?«
»Heute früh. Wir haben uns die Aufzeichnung angehört. Das Mädchen hat gesagt, sie wär eine Bekannte. Wahrscheinlich ist sie hergekommen, um ein bisschen Stoff zu schnorren. Von den Nachbarn, die bis jetzt befragt wurden, weiß keiner, wer diese junge Bekannte gewesen sein könnte.« Ellison hob die Brauen. »Die meisten haben den Mieter der Wohnung angeblich kaum gekannt. Niemand macht den Mund auf, und in einem Haus wie dem hier würde mich alles andere auch ziemlich wundern. Aber die Spurensicherung hat schon Fingerabdrücke von mehreren Personen sichergestellt. Wer weiß, vielleicht haben wir ja Glück.«
Hunters Blick erfasste innerhalb weniger Sekunden den Raum. Nirgendwo Blutspuren. Im Wohnzimmer herrschte ein ziemliches Chaos, aber das war am Vortag, als sie Tito ihren Besuch abgestattet hatten, auch schon so gewesen. Es gab keine sichtbaren Anzeichen darauf, dass etwas verändert oder durchwühlt worden war. Die Kette innen an der Wohnungstür war intakt. Nichts deutete auf gewaltsames Eindringen hin.
»Seid ihr fertig da drinnen?«, fragte Corbí den Leiter des Teams von der Spurensicherung und deutete auf den winzigen Flur, der zum Bad und zum Schlafzimmer führte.
»Ja, wir haben so weit alles. Ihr könnt jetzt rein.«
Sie durchquerten das Wohnzimmer.
»Wir passen nicht alle zusammen da rein«, sagte Corbí, als sie die Badezimmertür erreicht hatten. »Ich habe immer gedacht, kein Bad kann kleiner sein als das in meiner Wohnung, aber da habe ich mich wohl geirrt. Gehen Sie ruhig, wir haben es ja schon gesehen.« Corbí und Ellison machten Platz für Hunter und Garcia.
Langsam stieß Hunter die Tür auf.
»Ach du Scheiße«, entfuhr es Garcia.
Hunter sagte nichts. Schweigend nahm er alles in sich auf.
Der Boden, die Wände und das Waschbecken in dem winzigen Badezimmer waren voller Blut. Arterielle Spritzmuster, die daher kamen, dass jemandem mit einem Messer Bauch oder Kehle aufgeschlitzt worden war. Tito war nackt. Er saß mit dem Rücken an der gekachelten Wand in der blutgetränkten Duschwanne auf dem Boden. Seine Beine waren gerade vor dem Körper ausgestreckt, die Arme hingen schlaff herunter. Sein Kopf war nach hinten gekippt, als betrachte er etwas an der Zimmerdecke. Nur, dass er keine Augen mehr hatte. Sie waren beide so tief in den Schädel gedrückt worden, dass sie kaum noch zu sehen waren. Ein Augapfel schien dabei geplatzt zu sein. Etwas, das wie blutige Tränen aussah, lief aus Titos Augenhöhlen, an den Ohren vorbei und seitlich an seinem kahlrasierten Kopf hinab. Sein Mund war geöffnet und zur Hälfte mit klumpig geronnenem Blut gefüllt. Ihm war die Zunge herausgerissen worden.
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