»Die Amputationen bei den ersten beiden Opfern waren sauber durchgeführt«, ergänzte Brindle. »Die hier nicht. Die Formspuren am Gewebe und das wenige, was wir durch eine erste Untersuchung der Knochen feststellen konnten, deuten darauf hin, dass die Amputationen mit unglaublicher Brutalität vorgenommen wurden. Er hat eher gehackt als geschnitten. Die Arme …« Er hielt inne und rieb sich mit einer behandschuhten Hand über Nase und Mund. »Bei den Armen sieht es so aus, als hätte der Täter sie zunächst teilweise abgeschnitten, dann die Geduld verloren und sie einfach ausgerissen.«
Garcias Augen weiteten sich ein Stück.
»Zweifellos war das Opfer zu diesem Zeitpunkt bereits tot«, beeilte sich Dr. Hove hinzuzufügen.
Hunter richtete den Blick auf den Fußboden und die verschiedenen Schuhabdrücke. »Wurde irgendwas angefasst?«
Dr. Hove hob verzagt die Schultern. »Das LAPD hat versucht, jeden neugierigen Angestellten im Gebäude ausfindig zu machen, der auf die glorreiche Idee gekommen war, einen Blick hier ins Zimmer zu werfen. Bis jetzt haben alle beteuert, sie hätten nichts angerührt. Dasselbe gilt für die Detectives und Uniformierten, die hier waren. Aber letztlich lässt sich die Frage wohl nicht mit absoluter Sicherheit beantworten.« Sie wandte sich der Skulptur zu. »Wir haben keine Möglichkeit, festzustellen, ob irgendwas am ursprünglichen Aufbau verändert wurde.« Das Erwartungsvolle in ihrem Ton entging Hunter nicht. »Ich habe mir den Schatten noch nicht angesehen«, setzte sie hinzu. »Das ist Ihre Baustelle.«
Garcia sah Hunter an, wie um zu fragen: Und? Wie wollen wir es angehen?
Hunter wusste, dass es unmöglich war, die Skulptur zu bewegen, ohne Kleinigkeiten zu verändern. Wie er Alice erklärt hatte, war der Täter beim Anfertigen seiner ersten Skulptur überaus akribisch gewesen, während er auf die zweite deutlich weniger Mühe verwandt hatte. Hunter konnte nicht wissen, was der Täter ihnen mit dieser dritten Skulptur mitteilen wollte. Er wusste nur eins, nämlich dass ihnen die Zeit mit Riesenschritten davonlief. Sie konnten nicht darauf warten, dass ihnen das kriminaltechnische Labor wieder eine Nachbildung anfertigte.
»Hat jemand eine Taschenlampe?«, fragte er in die Runde.
»Hier.« Brindle reichte ihm eine mittelgroße Maglite.
»Na, dann wollen wir mal«, sagte Hunter. Er nahm die Taschenlampe entgegen und musterte Littlewoods verstümmelte Leiche auf dem Stuhl. Am zweiten Tatort hatte der Mörder den Kopf des Toten genau in dem Winkel zur Skulptur platziert, aus der der Lichtstrahl kommen musste, damit man sein Kunstwerk so sah wie von ihm beabsichtigt. Eins von Littlewoods Augen fehlte, das andere jedoch starrte geradeaus zum Schreibtisch. Das musste ein Hinweis sein. Hunter sah erneut zu Boden.
»Wurde alles schon fotografiert, Doc?« Es würde ihm nicht gelingen, dieselbe Perspektive einzunehmen wie Littlewoods einäugiges, totes Starren, ohne dabei in Blut zu treten oder womöglich sogar den Stuhl ein Stück beiseitezuschieben.
Dr. Hove musste nicht nachhaken. Sie war Hunters Blick gefolgt und wusste, weshalb er fragte. »Ja, keine Sorge«, antwortete sie.
Die Jalousien waren bereits heruntergelassen. Brindle löschte die gleißenden Tatortlampen, und Hunter nahm seinen Platz unmittelbar vor der Leiche ein. Er achtete darauf, die Taschenlampe genau entlang Littlewoods Blickachse auszurichten.
Es schien, als würden alle zur selben Zeit tief Luft holen.
Hunter wappnete sich. Dann schaltete er die Taschenlampe ein.
Die anderen hatten sich um Hunter geschart. Garcia stand rechts von ihm, Dr. Hove und Brindle links. Alle Blicke waren auf den Schatten gerichtet, der hinter der Skulptur an der Wand erschien. Brindle trat nervös von einem Fuß auf den anderen.
»Abgefahren«, hauchte er. Als Dr. Hove ihm von dem Schattenbild erzählt hatte, hatte er sich das Ganze ziemlich unheimlich vorgestellt; aber es jetzt mit eigenen Augen zu sehen war noch etwas ganz anderes. Es war lange her, dass er sich an einem Tatort so gegruselt hatte.
Instinktiv kniffen alle die Augen zusammen und starrten angestrengt auf die Wand. Niemand musste fragen. Dies war das bislang eindeutigste Schattenbild – keine seltsamen Tiere, keine gehörnten Kreaturen.
Der Arm links auf dem Schreibtisch warf einen Schatten, der einer stehenden Person ähnlich sah. Der nach vorn geschobene Daumen stellte einen Arm dar, der ausgerenkte Mittelhandknochen bildete den Kopf. Alles zusammen ergab das Bild einer menschlichen Gestalt, die entweder ging oder stand und dabei auf etwas zeigte. Der Schatten der aufgeklappten Buchattrappe sah aus wie ein großer Behälter mit Deckel. Aufgrund der fehlenden Tiefenwirkung erweckte es den Anschein, als befände sich dieser Behälter in unmittelbarer Nähe der Gestalt, auch wenn sie in Wirklichkeit fast einen Meter entfernt war. Insgesamt sah es so aus, als zeige jemand mit dem Arm auf eine große Kiste mit Deckel.
Das Einzige, was ihnen Rätsel aufgab, waren die Finger, die zurechtgeschnitzt und in der Schachtel platziert worden waren. Ihre Schatten glichen auf geradezu unheimliche Weise einem liegenden Menschen. Der Schatten des am Rand lehnenden Fingers bildete den Kopf, die zwei anderen Finger, die seitlich aus der Schachtel hingen, sahen aus wie ein Arm und ein Bein. Der Rest des Körpers war unsichtbar, als läge er in der Schachtel. Hunter fühlte sich an jemanden erinnert, der sich gemütlich in der Badewanne aalt, den Kopf und einen Fuß am Wannenrand abgestützt und dabei entspannt einen Arm baumeln lässt.
Garcia war der Erste, der etwas sagte. »Sieht aus wie jemand, der auf jemand anderen zeigt, der in einer Kiste liegt und schläft oder … ein Bad nimmt oder so.«
Brindle nickte langsam. »Ja, finde ich auch. Aber warum zeigt der eine?«
»Das ist Teil des Rätsels«, belehrte ihn Garcia. »Wir müssen nicht nur den Winkel finden, aus dem die Skulptur betrachtet werden soll, sondern das Bild auch noch richtig interpretieren.«
»Sagt Ihnen das was?«, wandte sich Dr. Hove an Hunter. »Passt das in irgendeiner Weise zu den anderen Bildern?«
Hunter starrte an die Wand. »Ich weiß nicht genau, und ich möchte lieber nichts dazu sagen, bis ich es mir gründlicher angesehen habe.«
»Irgendwie faszinierend«, meinte Brindle und neigte den Kopf erst zur einen, dann zur anderen Seite, wie um das Bild aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten.
»Bestimmt hat der Täter genau das beabsichtigt«, sagte Garcia. »Also, wir müssen jetzt dasselbe machen wie auf Dupeks Boot: den Schatten fotografieren. Wir müssen die Tatortleuchten dahin rücken, wo jetzt die Taschenlampe ist, auf die Weise brauchen wir kein Blitzlicht.«
»Kein Problem«, sagte Brindle und ging zu einer der Tatortleuchten in der Ecke.
»Moment noch«, sagte Hunter mit gerunzelter Stirn. Etwas stimmte nicht. Er schaltete die Taschenlampe aus und drehte sich um. Sein Blick suchte das Zimmer vom Fußboden bis zur Decke ab.
»Was ist denn?«, fragte Garcia.
»Irgendwie kommt mir das nicht richtig vor.«
»Was kommt dir nicht richtig vor?«
»Das Bild. Es ist unvollständig.«
Garcia, Dr. Hove und Brindle sahen einander verwundert an. Keiner schien zu wissen, was Hunter meinte.
»Unvollständig? Inwiefern?«, fragte Dr. Hove.
Hunter schaltete die Taschenlampe ein. Erneut tauchte an der Wand hinter der Skulptur das Schattenbild auf. »Was sehen Sie?«
»Dasselbe wie eben«, lautete Hoves Antwort. »Das, was Carlos beschrieben hat. Eine Gestalt, die vor irgendeinem Behälter steht, in dem jemand liegt. Möglicherweise eine Badewanne. Warum, was sehen Sie denn?«
»Genau dasselbe.«
Verdutzte Blicke.
»Und wieso sagst du dann, dass was fehlt?«, wollte Garcia wissen. Er war es gewohnt, dass Hunter Dinge sah, die niemand sonst sehen konnte – dass er Fragen stellte, wo es niemandem sonst einfiel zu fragen. Sein Verstand gab sich nie zufrieden. Er musste immer tiefer graben, selbst wenn alles vollkommen offensichtlich war.
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