John kannte sie. Als könnten solche Kinder einem alle Geheimnisse des Universums offenbaren, wenn sie nur sprechen könnten. Manchmal dachte er, sie wüssten vielleicht wirklich alle Geheimnisse, nur habe Gott es so eingerichtet, dass sie dann, wenn sie mehr als nur Gu-gu-ga-ga zustande brachten, alles wieder vergessen hatten, so wie man selbst seine lebhaftesten Träume vergaß, sobald man einige Stunden wach war.
»Als sie uns sah, hat sie gelächelt und die Augen geschlossen, und dann ist sie eingeschlafen. In der nächsten Nacht ist es wieder passiert. Zur selben Zeit. Diese neunundzwanzig Noten aus dem Wohnzimmer … dann Stille … und dann sind wir in Abras Zimmer gegangen und haben sie wach vorgefunden. Sie hat kein Theater gemacht, hat nicht mal an ihrem Schnuller genuckelt, sondern uns nur angesehen. Dann ist sie eingeschlafen.«
»Und das ist alles wahr«, sagte John. Es war eigentlich keine Frage, er wollte sich nur letzte Klarheit verschaffen. »Sie wollen mich nicht auf den Arm nehmen.«
David lächelte nicht. »Nicht mal ansatzweise.«
John sah Chetta an. »Haben Sie das auch schon einmal mitbekommen?«
»Nein. Lassen Sie David zu Ende erzählen.«
»Wir haben uns ein paar Abende freigenommen, und … Sie wissen ja, dass das Geheimnis einer erfolgreichen Erziehung, wie man so schön sagt, darin besteht, immer einen Plan aufzustellen.«
»Klar.« Das war der wichtigste Rat, den John Dalton frischgebackenen Eltern gab. Wie geht man mit dem nächtlichen Füttern um? Man stellt einen Plan auf, damit immer jemand bereitsteht und niemand zu stark strapaziert wird. Wie geht man mit Baden und Füttern und Anziehen und Spielen um, damit das Kind eine geregelte – und daher beruhigende – Routine hat? Man macht einen Stundenplan. Wie weiß man, was im Notfall zu tun ist, zum Beispiel wenn das Kinderbett zusammenbricht oder das Kind etwas verschluckt hat und keine Luft bekommt? Wenn man einen Plan aufgestellt hatte, wusste man es, und in neunzehn von zwanzig Fällen klappte auch alles wunderbar.
»Deshalb haben wir genau das getan. In den folgenden drei Nächten hab ich auf dem Sofa direkt gegenüber dem Klavier geschlafen. In der dritten Nacht hat die Musik angefangen, gerade als ich mich hinlegen wollte. Die Tastenklappe war geschlossen, also bin ich hingelaufen und hab sie aufgeklappt. Die Tasten bewegten sich nicht. Was mich nicht groß überrascht hat, weil die Musik auch nicht aus dem Klavier kam.«
»Wie bitte?«
»Sie kam von irgendwo darüber . Aus der leeren Luft. Inzwischen war Lucy in Abras Zimmer gelaufen. Die anderen Male hatten wir nichts gesagt, wir waren zu verblüfft gewesen, aber diesmal war Lucy bereit. Sie hat Abra gesagt, sie soll es noch einmal spielen. Es gab eine kleine Pause … und dann hat sie’s getan. Ich stand so nahe bei ihr, dass ich die Töne fast aus der Luft hätte pflücken können.«
Schweigen im Sprechzimmer von John Dalton, der aufgehört hatte, sich Notizen zu machen. Chetta sah ihn mit ernster Miene an. Endlich sagte er: »Passiert das immer noch?«
»Nein. Lucy hat Abra auf den Schoß genommen und ihr gesagt, sie soll nachts nicht mehr spielen, weil wir sonst nicht schlafen könnten. Und das war das Ende des Ganzen.« David machte eine nachdenkliche Pause. » Fast das Ende. Einmal, etwa drei Wochen später, haben wir die Musik wieder gehört, aber ganz leise, und diesmal kam sie aus unserer Etage. Aus Abras Zimmer.«
»Sie hat es für sich gespielt«, sagte Concetta. »Sie ist aufgewacht … konnte nicht gleich wieder einschlafen … und da hat sie sich ein kleines Wiegenlied vorgespielt.«
6
An einem Montagnachmittag, fast genau ein Jahr nach dem Einsturz der Zwillingstürme, war Abra – die inzwischen laufen konnte und in deren ständigem Geplapper allmählich erkennbare Wörter auftauchten – zur Haustür getapst, wo sie sich zu Boden plumpsen ließ und mit ihrer Lieblingspuppe auf dem Schoß sitzen blieb.
»Was willst du denn da, Schatz?«, fragte Lucy. Sie saß am Klavier und spielte einen Ragtime von Scott Joplin.
»Dada!«, verkündete Abra.
»Liebling, Dada kommt erst nach dem Abendessen heim«, sagte Lucy, aber eine Viertelstunde später bog Daves Acura in die Einfahrt ein, und Dave stieg samt seiner Aktentasche aus. In dem Gebäude, in dem er montags, mittwochs und freitags unterrichtete, hatte es einen Wasserrohrbruch gegeben, und alle Kurse waren abgesagt worden.
»Lucy hat mir davon erzählt«, sagte Concetta zu John Dalton. »Und von dem Schreikrampf am 11. September und dem Phantomklavier wusste ich natürlich schon. Ein, zwei Wochen später kam ich zu Besuch. Ich hatte Lucy gesagt, sie soll Abra nichts davon verraten, aber die wusste trotzdem Bescheid. Zehn Minuten vor meiner Ankunft hat sie sich an der Haustür postiert. Als Lucy fragte, wer da kommt, hat Abra ›Momo‹ geantwortet.«
»So was passiert oft«, sagte David. »Nicht jedes Mal wenn jemand kommt, aber wenn es jemand ist, den sie kennt und mag … fast immer.«
Im späten Frühling 2003 fand Lucy ihre Tochter im Schlafzimmer. Abra zerrte an der zweiten Schublade von Lucys Frisierkommode.
»Gell!«, sagte sie zu ihrer Mutter. »Gell, gell!«
»Ich versteh nicht, was du meinst, Liebling«, sagte Lucy. »Aber wenn du willst, kannst du gern in die Schublade schauen. Da ist bloß alte Unterwäsche und übrig gebliebener Kosmetikkram drin.«
Abra hatte jedoch offenbar gar kein Interesse an der Schublade, denn als Lucy diese herauszog, um ihr den Inhalt zu zeigen, schaute sie nicht einmal hinein.
»Hin! Gell!« Sie holte tief Luft. »Gell hin, Mama!«
Ganz fließend sprachen Eltern die Babysprache nie – dazu war nicht genug Zeit –, aber die meisten erwarben gewisse Kenntnisse darin, weshalb Lucy schließlich begriff, dass ihre Tochter sich nicht für den Inhalt der Frisierkommode interessierte, sondern für etwas dahinter.
Neugierig zog sie das Möbel ein Stück weit von der Wand weg. Abra flitzte sofort in den entstandenen Spalt. Lucy, die befürchtete, es könnte dort ziemlich staubig sein, von Insekten und Mäusen ganz zu schweigen, grabschte nach Abras T-Shirt, erwischte es jedoch nicht. Als sie die Kommode weit genug hervorgezogen hatte, dass sie selbst hätte dahinterschlüpfen können, hielt Abra einen Zwanzigdollarschein in der Hand, der offenbar durch den Spalt zwischen Spiegel und Platte gerutscht war. »Da!«, sagte sie vergnügt. »Gell! Mein Gell!«
»Von wegen«, sagte Lucy und zupfte ihr den Schein aus dem Fäustchen. »Kleine Kinder kriegen kein Geld, weil sie nämlich keins brauchen. Aber du hast dir gerade ein Eis verdient.«
»Aaais!«, rief Abra. » Mein Aaais!«
»Die Sache mit Mrs. Judkins kannst ja du erzählen«, sagte David zu seiner Schwiegeroma. »Die hast du schließlich selbst mitbekommen.«
»Allerdings«, sagte Concetta. »Das war ein Wochenende!«
Im Sommer 2003 hatte Abra begonnen, in – mehr oder weniger – vollständigen Sätzen zu sprechen. Concetta war gekommen, um das Feiertagswochenende nach dem vierten Juli bei den Stones zu verbringen. Am Sonntag, der auf den sechsten Juli fiel, war Dave zum Supermarkt gefahren, um eine neue Flasche Propangas für den Gartengrill zu besorgen. Abra spielte im Wohnzimmer mit ihren Bauklötzen. Lucy und Chetta waren in der Küche, wobei eine der beiden gelegentlich nach der Kleinen sah, um zu verhindern, dass diese den Stecker des Fernsehers aus der Dose zog und daran lutschte oder den Sofa-Berg erklomm. An solchen Unternehmungen zeigte Abra jedoch kein Interesse; sie war damit beschäftigt, aus ihren Plastikklötzen eine Art Stonehenge zu bauen.
Lucy und Chetta räumten gerade die Geschirrspülmaschine aus, als Abra losbrüllte.
»Es hat sich angehört, als würde sie sterben«, erzählte Chetta. »Sie wissen doch, wie erschreckend so was ist, oder?«
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