»Bloß ist sie da nicht. Ich hab überall gesucht, und sie ist einfach nicht da. Ich muss oft Visite im Krankenhaus machen, und wenn ich mich dort umziehe, lege ich meine Sachen im Aufenthaltsraum in eines der Schließfächer. Die haben Zahlenschlösser, aber die verwende ich fast nie, weil ich nicht viel Geld mit mir herumtrage und sonst auch nichts dabeihabe, was man klauen könnte. Außer der Uhr offenbar. Ich kann mich zwar nicht daran erinnern, dass ich sie abgenommen und in ein Schließfach gelegt habe – in Concord oder drüben in Bridgton –, aber das habe ich wohl getan. Es geht nicht um die Kosten. Es ruft nur die Erinnerung an die Tage zurück, als ich mir jeden Abend die Hucke vollgesoffen und am nächsten Morgen Speed geschnupft habe, um irgendwie in die Gänge zu kommen.«
Manche nickten und ließen ähnliche Geschichten darüber folgen, wie sie Menschen aus Schuldgefühlen heraus getäuscht hatten. Einen Ratschlag gab niemand, das galt als Einmischung und war verpönt. Alle erzählten einfach ihre Geschichte. John lauschte mit gesenktem Kopf und zwischen den Knien gefalteten Händen. Nachdem der Korb herumgereicht worden war (»Unsere Ausgaben müssen durch unsere freiwilligen Beiträge gedeckt werden«), dankte er allen für ihre Kommentare. Dabei machte er nicht den Eindruck, dass besagte Kommentare ihm viel geholfen hätten.
Nach dem Vaterunser räumte Dan die übrig gebliebenen Kekse auf und stapelte die zerflederten Blauen Bücher der Gruppe in das Schränkchen mit der Aufschrift EIGENTUM DER AA. Einige Teilnehmer standen draußen noch um den Kippeneimer herum – das war das sogenannte Meeting nach dem Meeting –, aber die Küche hatten John und Dan für sich allein. Letzterer hatte während des Gesprächs nichts gesagt; er war zu sehr damit beschäftigt gewesen, eine innere Debatte mit sich selbst zu führen.
Sein Shining hatte sich ruhig verhalten, aber das hieß nicht, dass es verschwunden war. Dan wusste aus seiner ehrenamtlichen Tätigkeit, dass es sogar stärker war denn je seit seiner Kindheit, nur schien er es inzwischen besser beherrschen zu können. Dadurch wirkte es weniger erschreckend und war wesentlich nützlicher. Seine Kolleginnen und Kollegen im Hospiz wussten, dass er irgendeine besondere Eigenschaft besaß, aber sie nannten es Empathie und ließen es dabei bewenden. Er wiederum scheute nun, da sein Leben in ruhigeren Bahnen verlief, nichts mehr, als sich einen Ruf als eine Art Medium zu erwerben. Da war es am besten, diesen ausgeflippten Kram für sich zu behalten.
Doctor John war allerdings ein richtig guter Kerl. Und er litt.
DJ stellte die Kaffeekanne umgekehrt in den Geschirrablauf, nahm das am Backofengriff hängende Handtuch, um sich die Hände abzutrocknen, und drehte sich dann zu Dan um. Er schenkte ihm ein Lächeln, das so echt aussah wie der Kaffeeweißer, den Dan neben die Kekse und die Zuckerdose gestellt hatte. »Tja, dann mache ich mich mal auf die Socken. Bis nächste Woche wahrscheinlich.«
Letztlich fiel die Entscheidung von selbst; Dan konnte den armen Kerl einfach nicht so ziehen lassen. Er streckte die Arme aus. »Komm schon!«
Die berühmte AA-Männerumarmung. Dan hatte sie schon oft gesehen, aber selbst noch nie jemand eine angeboten. John blickte eine Moment zweifelnd drein, dann trat er auf ihn zu. Als Dan ihn an sich zog, dachte er: Wahrscheinlich passiert gar nichts.
Aber es passierte etwas. Es kam so unversehens wie in seiner Kindheit, wenn er seinen Eltern manchmal geholfen hatte, verloren gegangene Gegenstände wiederzufinden.
»Hör mal, Doc«, sagte er, als er John losließ. »Du machst dir Sorgen um das Kind mit Gotscheh, stimmt’s?«
John wich einen Schritt zurück. »Was sagst du da?«
»Ich weiß schon, dass ich es nicht richtig ausspreche. Gotscheh? Glotscheh? Es hat irgendwas mit den Knochen zu tun.«
John starrte ihn mit offenem Mund an. »Sprichst du etwa von Norman Lloyd?«
»Das musst du mir sagen.«
»Normie leidet an Morbus Gaucher. Das ist eine Störung des Fettstoffwechsels. Erblich und sehr selten. Führt zu einer vergrößerten Milz, neurologischen Störungen und normalerweise zu einem frühen, unangenehmen Tod. Der arme Junge hat praktisch Glasknochen und wird wahrscheinlich sterben, bevor er zehn ist. Aber woher weißt du überhaupt davon? Von seinen Eltern? Die Lloyds wohnen doch unten in Nashua, und das ist verdammt weit weg!«
»Du hattest Angst davor, mit ihm zu sprechen – wer unheilbar krank ist, bringt dich total durcheinander. Deshalb bist du in die Tigger-Toilette gegangen, um dir die Hände zu waschen, obwohl das gar nicht nötig war. Dabei hast du deine Armbanduhr abgenommen und sie auf das Regal gelegt, auf dem man Plastikflaschen mit diesem roten Desinfektionszeug aufbewahrt. Ich weiß nicht, wie es heißt.«
John D. starrte ihn an, als wäre er wahnsinnig geworden.
»In welchem Krankenhaus liegt dieser Junge?«, fragte Dan.
»Im Elliot. Von der Zeit her stimmt das in etwa, und ich bin tatsächlich auf die Toilette in der Nähe vom Stationszimmer gegangen, um mir die Hände zu waschen.« Er schwieg und runzelte die Stirn. »Stimmt, dort kleben die Disney-Figuren aus Winnie Puuh an der Wand. Aber wenn ich meine Uhr abgenommen hätte, dann würde ich mich doch daran erinn…« Er verstummte.
»Du erinnerst dich tatsächlich daran«, sagte Dan und lächelte. » Jetzt tust du’s jedenfalls. Oder etwa nicht?«
»Ich hab dort im Fundbüro nachgefragt. In Bridgton und Concord übrigens auch. Nichts.«
»Okay, dann ist vielleicht jemand nach dir reingekommen, hat die Uhr gesehen und sie geklaut. Wenn das so ist, hast du Pech gehabt … aber du kannst deiner Frau wenigstens sagen, was passiert ist. Und wieso es passiert ist. Du hast an diesen Jungen gedacht, hast dir Sorgen um ihn gemacht, und da hast du vergessen, deine Uhr wieder anzulegen, bevor du das Klo verlassen hast. So einfach ist das. Aber, hör mal, vielleicht ist sie sogar noch da. Schließlich ist das Regal ziemlich hoch, und das Zeug in diesen Plastikflaschen wird kaum verwendet, weil direkt neben dem Waschbecken ein Seifenspender ist.«
»Das Zeug auf dem Regal heißt Betadine«, sagte John. »Und das Regal ist so hoch, damit die Kinder nicht drankommen. Ist mir bisher nie richtig aufgefallen. Aber … Dan, warst du denn schon mal im Elliot?«
Das war keine Frage, die Dan beantworten wollte. »Sieh einfach mal auf dem Regal nach, Doc. Vielleicht hast du Glück.«
3
Am folgenden Donnerstag traf Dan früher als sonst beim Nüchternheitsmeeting ein. Sollte Doctor John beschlossen haben, wegen einer verloren gegangenen Armbanduhr seine Ehe und womöglich sogar seinen Beruf wegzuschmeißen (Alkoholiker taten das oft aus wesentlich geringfügigeren Gründen), dann musste jemand andres Kaffee kochen. Aber John war da. Die Uhr ebenfalls.
Diesmal war es John, von dem die Umarmung ausging. Eine ausgesprochen herzliche. Dan erwartete schon, nach französischer Sitte links und rechts auf die Wange geküsst zu werden, bevor DJ ihn losließ.
»Sie war genau da, wo du gesagt hast. Immer noch. Nach zehn Tagen. Es ist fast ein Wunder.«
»Na ja«, sagte Dan. »Die meisten Leute sehen nie nach oben. Das ist wissenschaftlich erwiesen.«
»Wie konntest du das nur wissen? «
Dan schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht erklären. Manchmal weiß ich so was einfach.«
»Wie kann ich dir danken?«
Das war eine Frage, die Dan erwartet und erhofft hatte. »Indem du dich an den zwölften Schritt hältst, Dummkopf.«
John D. hob die Augenbrauen.
»Anonymität. Simpel ausgedrückt – halt bloß die Klappe!«
Auf Johns Gesicht machte sich Verständnis breit. Er grinste. »Das schaff ich.«
»Gut. Dann mach jetzt Kaffee. Ich lege die Bücher raus.«
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