Daran zweifelte Dan nicht. Vom Speise- und vom Ballsaal des Overlooks aus war der Blick ebenfalls spektakulär gewesen … zumindest bis der sich immer höher auftürmende Schnee die Fenster verhüllt hatte. Im Westen ragten die höchsten Gipfel der Rocky Mountains wie Speere in den Himmel. Richtung Osten sah man bis nach Boulder, ach, sogar bis nach Denver und Arvada, jedenfalls an den seltenen Tagen, an denen die Luftverschmutzung nicht zu schlimm war.
Dass der Staat sich dieses Landstück angeeignet hatte, war nicht weiter erstaunlich. Wer hätte dort wohl wieder etwas erbauen wollen? Der Boden war verdorben, und man brauchte kaum über telepathische Fähigkeiten zu verfügen, um das wahrzunehmen. Aber der Wahre Knoten hatte sich so nah wie möglich an diesem Ort niedergelassen, und Dan vermutete, dass dessen gelegentlich auftauchende Gäste – die normalen – nur selten zu einem zweiten Besuch wiederkamen oder ihren Freunden den Campingplatz weiterempfahlen. Ein unheilvoller Ort muss unheilvolle Kreaturen anziehen, hatte John gesagt. Falls dem so war, dann galt auch umgekehrt: Wer gut war, musste sich davon abgestoßen fühlen.
»Dan?«, rief Dave. »Der Zug fährt ab!«
»Ich brauche noch eine Minute!«
Er schloss die Augen und presste sich eine Handfläche an die Stirn.
(Abra)
Seine Stimme weckte sie sofort.
Kapitel siebzehn
DAS KLEINE AAS
1
Es war noch mindestens eine Stunde bis zur Morgendämmerung, und vor dem Motel Crown war es dunkel, als sich die Tür von Zimmer 24 öffnete und ein Mädchen heraustrat. Dichter Nebel lag über der Landschaft, sodass die Welt kaum vorhanden war. Das Mädchen trug eine schwarze Hose und ein weißes T-Shirt. Ihre Haare hatte sie zu zwei Zöpfen gebunden, und das Gesicht dazwischen sah sehr jung aus. Sie atmete tief ein, und die kühle, feuchte Luft wirkte Wunder gegen die immer noch vorhandenen Kopfschmerzen, tat jedoch nicht viel für Abras todtrauriges Herz. Momo war gestorben.
Aber wenn Onkel Dan recht hatte, war sie nicht richtig tot, nur irgendwo anders. Vielleicht gehörte sie nun zu den Geisterleuten, vielleicht auch nicht. Allerdings hatte Abra gerade keine Zeit, darüber nachzugrübeln. Eventuell würde sie das später tun.
Dan hatte gefragt, ob Billy schlafe. Ja, hatte sie geantwortet, der schlafe tief und fest. Durch die offene Tür könne sie seine Füße unter der Decke hervorragen sehen und sein regelmäßiges Schnarchen hören. Es klinge wie ein vor sich hin tuckerndes Motorboot.
Außerdem hatte Dan gefragt, ob Rose oder jemand von deren Leuten irgendwie versucht habe, in ihre Gedanken einzudringen. Nein. Das hätte sie gemerkt. Ihre Fallen seien aufgestellt, und das müsse Rose ahnen. Dumm sei die schließlich nicht.
Ob ein Telefon in ihrem Zimmer sei, hatte die nächste Frage gelautet. Ja, da stehe eines. Woraufhin Onkel Dan ihr erklärt hatte, was sie tun solle. Es war ziemlich einfach. Angst machte ihr nur, was sie zu dieser schrecklichen Frau in Colorado sagen musste. Dennoch wollte sie es tun. Etwas in ihr hatte das tun wollen, seit sie die Todesschreie des Baseballjungen gehört hatte.
(ist dir klar was du mehrfach sagen musst)
Ja natürlich.
(weil du sie reizen musst das ist wichtig)
(hab verstanden)
Sie wütend machen. Sie zur Weißglut bringen.
Abra stand da und atmete in den Nebel hinein. Die Straße, auf der sie hergekommen waren, war kaum zu sehen, die Bäume dahinter waren vollständig verschwunden. Auch das Rezeptionsgebäude sah man nicht. Manchmal wünschte sie sich, auch so zu sein, ganz weiß im Innern. Aber nur manchmal. Im tiefsten Herzen bedauerte sie nie, was sie war.
Als sie sich bereit fühlte – so bereit, wie es ihr möglich war –, ging sie in ihr Zimmer zurück und schloss die Seitentür, um Mr. Freeman nicht zu stören, falls sie laut werden musste. Sie studierte die Anweisungen auf dem Telefon und drückte die Neun, um eine Verbindung nach draußen zu bekommen. Dann wählte sie die Auskunft und erkundigte sich nach der Nummer der Overlook Lodge auf dem Bluebell Campground in Sidewinder, Colorado. Die Nummer des Büros dort könnte ich dir zwar nennen, hatte Dan gesagt, aber da würde sich bloß der Anrufbeantworter melden.
An dem Ort, wo die Gäste ihre Mahlzeiten einnahmen und Karten spielten, läutete das Telefon lange vor sich hin. Das hatte Dan vorausgesehen und ihr gesagt, sie solle einfach warten. Schließlich sei es dort zwei Stunden früher als an der Ostküste.
Endlich sagte jemand mit brummiger Stimme: »Hallo? Wenn Sie das Büro sprechen wollen, haben Sie die falsche Num…«
»Das Büro interessiert mich nicht«, sagte Abra und hoffte, dass man ihr nicht anhörte, wie schnell und heftig ihr Herz schlug. »Ich will Rose sprechen. Rose the Hat.«
Eine Pause. Dann: »Wer spricht da?«
»Abra Stone. Sie kennen meinen Namen, stimmt’s? Ich bin das Mädchen, nach dem Rose sucht. Sagen Sie ihr, in fünf Minuten rufe ich noch mal an. Wenn sie dann da ist, sprechen wir miteinander. Wenn nicht, kann sie mich am Arsch lecken. Noch mal rufe ich nämlich nicht an.«
Abra legte auf, dann ließ sie den Kopf sinken, verbarg ihr glühendes Gesicht in den Händen und atmete tief und langsam durch.
2
Rose saß am Lenkrad ihres EarthCruiser, die Füße auf dem Geheimfach mit den Flaschen voll Steam, und trank Kaffee, als es an die Tür klopfte. Ein so frühes Klopfen konnte nur weitere Probleme bedeuten.
»Ja«, sagte sie. »Mach einfach die Tür auf.«
Es war Long Paul, der einen kindischen, mit Rennautos bedruckten Pyjama und darüber seinen Bademantel trug. »Das Münztelefon in der Lodge hat geläutet. Zuerst hab ich nicht reagiert, weil ich dachte, da hat sich jemand verwählt, außerdem war ich gerade in der Küche und hab Kaffee gekocht. Aber es hat nicht aufgehört, also hab ich abgehoben. Es war dieses Mädchen. Sie will mit dir sprechen. In fünf Minuten ruft sie noch mal an, hat sie gesagt.«
Hinten setzte Silent Sarey sich im Bett auf und blinzelte durch ihren Pony. Die Bettdecke hatte sie wie einen Schal um die Schultern gezogen.
»Raus«, sagte Rose zu ihr.
Sarey gehorchte stumm. Durch die breite Windschutzscheibe des EarthCruisers hindurch sah Rose, wie Sarey barfuß zu dem Bounder zurücktrottete, den sie sich mit Snakebite Andi geteilt hatte.
Das Mädchen.
Statt davonzulaufen und sich zu verstecken, machte dieses kleine Aas doch tatsächlich Telefonanrufe. Eiserne Nerven hatte die Kleine, das musste man zugeben. Aber war es ihre eigene Idee gewesen? Das war schwer zu glauben, oder nicht?
»Sag mal, wieso hast du dich eigentlich schon so früh in der Küche herumgetrieben?«
»Ich konnte nicht einschlafen.«
Sie wandte sich ihm zu. Er war ein groß gewachsener, älterer Kerl mit schütterem Haar und einer Bifokalbrille auf der Nase. Ein Tölpel hätte ihm monatelang täglich auf der Straße begegnen können, ohne ihn wahrzunehmen, aber er hatte durchaus gewisse Fähigkeiten. Paul besaß zwar kein Schläfertalent wie Snakebite es hatte, und er war auch kein Finder wie der verstorbene Grampa Flick, aber er war ein anständiger Überreder. Wenn er einem Tölpel suggerierte, dieser solle seiner Frau – oder einem Fremden – eine Ohrfeige verpassen, dann geschah genau das, und zwar flott. Jedes Mitglied des Wahren Knotens verfügte über sein eigenes kleines Talent; das war der Grund, weshalb sie überall durchkamen.
»Zeig mir mal deine Arme, Paulie.«
Er seufzte und schob die Ärmel seines Bademantels und seines Pyjamas bis zu den runzligen Ellbogen hoch. Da waren sie, die roten Flecke.
»Seit wann hast du die?«
»Die ersten paar hab ich gestern Nachmittag bemerkt.«
»Fieber?«
»Ja. Ein bisschen.«
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