Lucy stieß einen Ruf aus, der fast ein Schrei war. Noch bevor John den Wagen ganz zum Halten gebracht hatte, hatte sie ihren Gurt gelöst und die Tür geöffnet. Wenige Sekunden später schlang sie die Arme um ihre Tochter und küsste sie auf den Scheitel – mehr war nicht möglich, weil Abras Gesicht zwischen ihren Brüsten steckte. Nun beschien die Sonne Mutter und Kind.
Mother and Child Reunion, dachte Dan. Das Lächeln, das dieser Gedanke auslöste, fühlte sich auf seinem Gesicht merkwürdig an. Seit er das letzte Mal gelächelt hatte, war viel Zeit vergangen.
2
Lucy und David wollten Abra nach New Hampshire zurückbringen. Dagegen hatte Dan nichts einzuwenden, aber da sie nun alle zusammen waren, mussten sie erst einmal Kriegsrat abhalten. An der Rezeption saß wieder der Fettkloß mit dem Pferdeschwanz; statt Porno genehmigte er sich heute einen MMA-Kampf. Er war gern bereit, ihnen Zimmer 24 weiterzuvermieten; ob sie die Nacht dort verbrachten oder nicht, war ihm egal. Billy fuhr in die Stadt, um ein paar Pizzas zu besorgen. Anschließend informierten Dan und Abra die anderen abwechselnd über alles, was bisher geschehen war, und alles, was noch geschehen würde. Wenn es so lief, wie sie hofften, jedenfalls.
»Nein, das ist viel zu gefährlich«, sagte Lucy sofort. »Für euch beide.«
John verzog den Mund zu einem trüben Lächeln. »Am gefährlichsten wäre es, diese … diese Kreaturen zu ignorieren. Rose sagt, wenn Abra nicht zu ihr kommt, dann kommt sie zu Abra.«
»Die ist sozusagen auf Abra fixiert«, sagte Billy und wählte ein Stück Pizza mit Peperoni und Champignons. »Bei Irren kommt so was häufig vor. Da haben sie neulich was im Fernsehen darüber gebracht.«
Lucy sah ihre Tochter vorwurfsvoll an. »Du hast sie aufgestachelt. Das war gefährlich, aber wenn sie sich beruhigt hat, wird sie vielleicht …«
Obwohl niemand sie unterbrach, verstummte sie. Offenbar war ihr klar geworden, wie unwahrscheinlich diese Erwartung war.
»Sie wird nicht aufgeben, Mama«, sagte Abra. »Sie nicht und die anderen auch nicht.«
»Abra wird nicht in Gefahr geraten«, sagte Dan. »Es gibt so etwas wie ein Rad, ein besserer Ausdruck dafür fällt mir nicht ein. Wenn es gefährlich wird oder gar schiefläuft, wird Abra dieses Rad verwenden, um sich davonzumachen. Sie wird sich aus der Situation herausziehen. Das hat sie mir versprochen.«
»Genau«, sagte Abra. »Ich hab’s versprochen.«
Dan warf ihr einen strengen Blick zu. »Und dieses Versprechen wirst du halten, richtig?«
»Ja«, sagte Abra mit fester Stimme, aber doch deutlich widerstrebend. »Das werde ich.«
»Wir müssen auch an diese ganzen Kinder denken«, sagte John. »Wer weiß, wie viele diese Bande im Lauf der Jahre umgebracht hat. Vielleicht Hunderte.«
Wenn die Mitglieder des Wahren Knotens so lange lebten, wie Abra glaubte, waren es wohl eher Tausende, dachte Dan. »Und das würde so weitergehen«, sagte er. »Selbst wenn sie Abra in Frieden lassen.«
»Immer vorausgesetzt, sie krepieren nicht alle an den Masern«, sagte Dave hoffnungsvoll. Er sah John an. »Du hast gesagt, das wäre durchaus möglich.«
»Sie wollen mich schnappen, weil sie denken, ich kann ihre Masern heilen «, sagte Abra. »Endlich geschnallt?«
»Kein Grund, ausfällig zu werden«, sagte Lucy abwesend. Sie nahm das letzte Stück Pizza, betrachtete es und warf es in die Schachtel zurück. »An die anderen Kinder will ich nicht denken. Ich denke an Abra. Ich weiß, wie schlimm sich das anhört, aber es ist die Wahrheit.«
»Wenn du die ganzen kleinen Fotos in der Zeitung gesehen hättest, würdest du wahrscheinlich anders denken«, sagte Abra. »Mir gehen sie jedenfalls nicht aus dem Kopf. Manchmal träume ich davon.«
»Falls diese Irre einigermaßen logisch denkt, weiß sie, dass Abra nicht alleine kommt«, sagte Dave. »Die kann ja nicht einfach nach Denver fliegen und dort einen Wagen mieten. Schließlich ist sie erst zwölf Jahre alt.« Er warf seiner Tochter einen halb amüsierten Seitenblick zu. »Endlich geschnallt?«
»Durch das, was am Wolkentor geschehen ist, weiß Rose schon, dass Abra Freunde hat«, sagte Dan. »Allerdings weiß sie nicht, dass mindestens einer davon dieselbe Gabe hat wie sie.« Er sah Abra fragend an, und diese nickte bestätigend. »Daher, Lucy … und Dave – ich glaube, gemeinsam können Abra und ich dieser …« Er suchte nach dem richtigen Wort und fand nur ein einziges, das passte. »… dieser Seuche ein Ende bereiten. Einer von uns allein …« Er schüttelte den Kopf.
»Außerdem kannst weder du noch Dad mich daran hindern«, sagte Abra. »Ihr könnt mich zwar in meinem Zimmer einsperren, aber meinen Kopf einsperren könnt ihr nicht!«
Lucy warf Abra einen drohenden Blick zu. Von der Sorte, die Mütter exklusiv für ihre rebellischen Töchter reservierten, und er hatte bisher immer gewirkt, selbst wenn Abra einen ihrer Tobsuchtsanfälle hatte. Diesmal versagte er. Abra sah ihre Mutter ruhig an. In ihrem Blick lag eine Traurigkeit, bei der es Lucy kalt ums Herz wurde.
Dave ergriff Lucys Hand. »Ich glaube, es geht nicht anders.«
Im Raum breitete sich Schweigen aus. Es war Abra, die es brach. »Wenn niemand das letzte Stück Pizza da haben will, nehme ich es. Ich bin nämlich noch echt hungrig .«
3
Sie sprachen den Plan noch mehrere Male durch, und bezüglich mancher Details gab es Einwände, aber im Grunde war alles gesagt. Mit einer Ausnahme, wie sich herausstellte. Als sie das Zimmer verlassen hatten, weigerte sich Billy, in Johns Auto zu steigen.
»Ich fahre mit«, sagte er zu Dan.
»Billy, das weiß ich zwar zu schätzen, aber es ist keine gute Idee.«
»Wer in meinem Wagen sitzt, bestimme ich. Außerdem, wie willst du es alleine bis Montagnachmittag nach Colorado schaffen? Das ist völlig lächerlich. Du siehst nämlich beschissen aus.«
»Das haben mir in letzter Zeit schon mehrere Leute erklärt«, sagte Dan. »Aber noch nie auf so elegante Weise.«
Billy grinste nicht einmal ansatzweise. »Ich kann dir helfen. Ich bin zwar alt, aber tot bin ich noch lange nicht.«
»Nimm ihn mit«, sagte Abra. »Er hat recht.«
Dan sah sie aufmerksam an.
(weißt du etwas Abra)
Die Antwort kam auf der Stelle.
(nein aber ich spüre etwas)
Das reichte Dan. Er breitete die Arme aus. Abra warf sich hinein und drückte das Gesicht an seine Brust. Er hätte sie lange so umarmen können, aber er ließ sie los und trat einen Schritt zurück.
(sag mir wenn du bald da bist Onkel Dan dann komme ich)
(du musst ganz behutsam sein vergiss das nicht)
Statt eines ausformulierten Gedankens schickte sie ihm ein Bild: einen Rauchmelder, der piepte, weil seine Batterie leer war. Sie wusste genau, wie sie sich verhalten musste.
Während sie zu Johns Wagen gingen, sagte Abra zu ihrem Vater: »Auf der Rückfahrt müssen wir irgendwo anhalten und eine Genesungskarte kaufen. Julie Cross hat sich gestern beim Fußballtraining das Handgelenk gebrochen.«
Stirnrunzelnd sah Dave sie an. »Woher willst du das denn wissen?«
»Ich weiß es eben«, sagte sie.
Er zog sie sanft an einem ihrer Pferdeschwänzchen. »Du hast tatsächlich nichts davon verlernt, stimmt’s? Ich weiß bloß nicht, wieso du uns nie etwas davon erzählt hast, Abba-Doo.«
Dan, der ebenfalls mit dem Shining aufgewachsen war, hätte die Frage sofort beantworten können.
Manchmal mussten Eltern eben beschützt werden.
4
Damit trennten sich ihre Wege. Johns SUV fuhr nach Osten, Billys Pick-up nach Westen, mit seinem Besitzer am Steuer. »Kannst du wirklich fahren, Billy?«, fragte Dan.
»Nachdem ich derartig lang gepennt hab? Junge, ich könnte bis Kalifornien fahren!«
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