Das tat er. Nach einer Weile drehte er sich um und sah in der Tür Dave Stone stehen, der sich das Hemd in die Hose stopfte und ihn beobachtete. Er sah ebenso grimmig wie verängstigt aus.
12
Dan begann damit, wie Abra Kontakt mit ihm aufgenommen habe, zuerst über Tony als Vermittlungsinstanz. Danach berichtete er, wie Abra auf den Wahren Knoten gestoßen sei – durch eine albtraumhafte Vision vom Schicksal Bradley Trevors, den sie den Baseballjungen nannte.
»An diesen Albtraum erinnere ich mich«, sagte Lucy. »Da bin ich durch ihr Schreien aufgewacht. Das kannte ich zwar schon von früher, aber damals war es das erste Mal seit zwei oder drei Jahren.«
Dave runzelte die Stirn. »Komisch, ich erinnere mich überhaupt nicht daran.«
»Du warst in Boston auf einer Konferenz.« Sie sah Dan an. »Mal sehen, ob ich es richtig verstanden habe. Diese Leute sind keine Menschen, sondern … was? Eine Art Vampire?«
»In gewisser Weise ja. Sie schlafen zwar nicht tagsüber in Särgen, um sich im Mondlicht in Fledermäuse zu verwandeln, und ich glaube auch nicht, dass man sie mit Kreuzen und Knoblauch einschüchtern kann, aber es sind Parasiten. Und menschlich sind sie auf keinen Fall.«
»Menschen lösen sich schließlich nicht einfach in Luft auf, wenn sie sterben«, sagte John trocken.
»Habt ihr das wirklich mit eigenen Augen gesehen?«
»Haben wir. Alle drei.«
»Jedenfalls hat der Wahre Knoten kein Interesse an gewöhnlichen Kindern«, fuhr Dan fort. »Nur an denen mit Shining.«
»Und das sind Kinder wie Abra«, sagte Lucy.
»Ja. Bevor sie sie töten, foltern sie sie – um den Steam zu reinigen, wie Abra sagt. Mir kommen da immer Schwarzbrenner in den Sinn, die ihr Gesöff destillieren.«
»Und du meinst, sie wollen Abra … inhalieren?«, sagte Lucy, die das offenbar immer noch nicht recht begreifen konnte. »Weil sie dieses Shining hat?«
»Ja, und zwar in besonderem Maße. Wenn man meine Fähigkeiten mit einer Taschenlampe vergleichen würde, dann wären ihre wie ein Leuchtturm. Außerdem weiß sie von diesen Leuten. Sie weiß, was sie sind.«
»Das ist noch nicht alles«, sagte John. »Was wir diesen Typen am Wolkentor angetan haben … für diese Frau namens Rose ist Abra daran schuld, egal wer tatsächlich geschossen hat.«
»Was denken die eigentlich?«, sagte Lucy empört. »Dass man sich nicht verteidigen darf? Um zu überleben? «
»Für Rose ist da einfach ein Mädchen, das sie herausgefordert hat«, sagte Dan.
»Herausgefordert?«
»Abra hat telepathisch Kontakt zu Rose aufgenommen. Sie hat ihr gesagt, dass sie zu ihr kommt.«
» Was hat sie getan?«
»Das ist ihr Temperament«, sagte Dave ruhig. »Ich hab ihr schon tausendmal gesagt, es wird sie noch in Schwierigkeiten bringen.«
»Sie wird bestimmt nicht in die Nähe dieser Frau und ihrer Mörderbande kommen«, sagte Lucy.
Dan dachte: Ja … und nein. Er nahm Lucys Hand. Die wollte sie ihm erst entziehen, tat es dann aber doch nicht.
»Du musst etwas ganz Einfaches verstehen«, sagte er. »Freiwillig werden diese Leute nie aufgeben.«
»Aber …«
»Kein Aber, Lucy. Unter anderen Umständen hätte diese Frau wahrscheinlich beschlossen, es dabei bewenden zu lassen – schließlich ist sie eine gewiefte Anführerin –, aber da ist noch ein weiterer Faktor.«
»Und der wäre?«
»Sie sind krank«, sagte John. »Abra meint, es sind die Masern. Möglicherweise haben sie sich bei diesem Jungen aus Iowa angesteckt. Weiß nicht, ob man das als Rache Gottes oder bloß als Ironie des Schicksals bezeichnen soll.«
»Die Masern? «
»Das hört sich vielleicht nicht so gefährlich an, aber glaub mir, da irrst du dich. Wenn früher ein Kind Masern bekam, haben sich alle seine Geschwister angesteckt. Falls das bei diesen Leuten passiert, werden sie dadurch womöglich ausgelöscht.«
»Großartig!«, rief Lucy. Das zornige Lächeln auf ihrem Gesicht kannte Dan nur zu gut.
»Nicht, wenn sie meinen, dass Abras außergewöhnlich starker Steam sie heilen wird«, sagte Dave. »Darum geht es ja gerade, Schatz. Das ist nicht bloß ein kleines Gerangel; diese Frau und ihre Leute kämpfen ums Überleben.« Er hatte sichtlich mit sich zu ringen, bevor er den Rest herausbrachte. Weil es gesagt werden musste. »Wenn diese Frau die Chance bekommt, wird sie unsere Tochter bei lebendigem Leib auffressen.«
13
»Wo sind die eigentlich?«, fragte Lucy. »Dieser Wahre Knoten, wo hält er sich auf?«
»In Colorado«, sagte Dan. »Auf einem Campingplatz in der Nähe der Stadt Sidewinder.« Dass sich dieser Campingplatz genau an dem Ort befand, an dem er fast durch die Hand seines Vaters gestorben wäre, wollte er nicht erwähnen, weil es zu weiteren Fragen und Zufall-oder-nicht-Spekulationen geführt hätte. Und er war sich ohnehin sicher, dass so etwas wie Zufall nicht existierte.
»In dieser Stadt muss es doch eine Polizeistation geben«, sagte Lucy. »Da rufen wir einfach an und sagen, was los ist.«
»Und was genau sagen wir da?« John klang dabei sanft und aufgeschlossen.
»Na, halt … dass …«
»Wenn wir die Cops tatsächlich dazu bringen sollten, zu diesem Campingplatz zu fahren, dann werden sie dort bloß einen Haufen mittelalter und älterer Amerikaner finden«, sagte Dan. »Harmlose Wohnmobilbesitzer, die Sorte, die einem immer Bilder von ihren Enkeln zeigen will. Die Papiere von denen sind vermutlich in bester Ordnung, von der Hundemarke bis zum Grundbucheintrag. Selbst wenn die Polizei einen Durchsuchungsbefehl bekäme – was nicht der Fall wäre, weil es dafür keinen plausiblen Grund gäbe –, würde sie keinerlei Schusswaffen finden, weil der Wahre Knoten so etwas nicht braucht. Seine Waffen befinden sich hier oben.« Er tippte sich an die Stirn. »Dich, Lucy, würde man für eine ausgeflippte Mutter aus New Hampshire halten, Abra für deine ausgeflippte Tochter, die von zu Hause weggelaufen ist, und uns für deine ausgeflippten Freunde.«
Lucy presste sich die Hände an die Schläfen. »Ich kann einfach nicht glauben, was gerade vor sich geht.«
»Wenn man in den Unterlagen stöbert, würde man wahrscheinlich feststellen, dass der Wahre Knoten – egal unter welchem Namen er offiziell firmiert – sich gegenüber diesem Ort in Colorado sehr großzügig gezeigt hat. Eine Hand wäscht die andere, und wer rechtzeitig vorsorgt, hat eine Menge Freunde, wenn es hart auf hart kommt.«
»Diese Typen treiben schon sehr lange ihr Unwesen, nicht wahr?«, sagte John. »Denn das Wichtigste, was sie durch diesen Steam bekommen, ist offenbar eine verlängerte Lebensdauer.«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass deine Einschätzung zutrifft«, sagte Dan. »Und als gute Amerikaner haben sie sich die ganze Zeit über bestimmt fleißig damit beschäftigt, Geld zu machen. Genug, Räder zu schmieren, die wesentlich größer sind als die in Sidewinder. Auf Staats- und Bundesebene.«
»Und diese Rose … die wird nicht aufgeben.«
»Nein.« Dan dachte an die Vision, die er von ihr gehabt hatte. An den schief sitzenden Zylinder. Den aufgesperrten Mund. Den einzelnen Zahn. »Ihr Herz hängt an der Jagd auf eure Tochter.«
»Eine Frau, die sich am Leben hält, indem sie Kinder tötet, hat kein Herz«, sagte Dave.
»O doch, sie hat eines«, sagte Dan. »Aber es ist schwarz.«
Lucy erhob sich. »Genug geredet. Ich will jetzt sofort zu Abra. Alle Mann vorher auf die Toilette, sobald wir im Auto sitzen, halten wir nämlich nicht an, bevor wir an diesem Motel angekommen sind.«
»Gibt’s hier in der Wohnung einen Computer?«, fragte Dan. »Falls ja, muss ich mir vor der Abfahrt kurz was anschauen.«
Lucy seufzte. »Der steht im Arbeitszimmer, und das Passwort wirst du wohl erraten. Aber wenn du mehr als fünf Minuten brauchst, starten wir ohne dich.«
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