Fluchend schickte er einen zweiten Teststrahl auf die Reise. Diesmal kam auch vom UPS-Gebäude nichts mehr zurück. Der Strahl verlor sich im Irgendwo. Das System, so wie Paddy und Jo es installiert hatten, existierte nicht mehr.
Er rief die letzten Sekunden der Filmübertragung auf und wartete, bis die winkende Gestalt des Präsidenten nach unten wegkippte. Mehrmals wiederholte er die Sequenz, den entscheidenden Moment, Bild für Bild, bis er sicher war.
Kein Defekt in der Steuerung konnte ein solches Versagen herbeigeführt haben.
Langsam ließ Gruschkow die Luft entweichen und sank in seinem Stuhl zurück.
Sie mussten die Spiegel entdeckt haben. Entdeckt und zerstört. Alles andere war ausgeschlossen.
Sein Blick wanderte über die Computer, die er an der gegenüberliegenden Wand aufgereiht hatte. Seit einer halben Stunde empfingen sie unterschiedliche Radio- und Fernsehsender. Eine diffuse, halblaute Melange aus Geräuschen, Stimmen und Musik erfüllte den Raum. Der WDR spielte leicht verdauliche Popmusik, die ARD brachte einen Krimi, NTV und CNN Talkrunden mit Wirtschaftsfachleuten und Politikern. Niemand unterbrach das Programm, um die Meldung durchzugeben, dass Bill Clinton auf dem Köln-Bonn Airport einem Attentat zum Opfer gefallen war. Ereignislosigkeit, wohin man blickte und hörte.
Gruschkow sprang auf, verließ den Raum durch die offene Tür und betrat die Halle. Er sah nach draußen auf den Hof, wo der YAG auf seinem rollenden Untersatz ruhte.
Dann fiel sein Blick auf den angeketteten Lektor.
Hass stieg in ihm hoch. Mit knallenden Absätzen lief er zu dem Gefangenen hinüber, der sich auf dem Boden niedergelassen hatte und mit dem Rücken an der Wand lehnte. Bei Gruschkows Herannahen hob Kuhn den Kopf. Seine Augen weiteten sich, als er den Russen quer durch die Halle auf sich zustürmen sah. Er versuchte, auf die Beine zu kommen, hob den freien Arm zum Schutz, aber da stand Gruschkow bereits vor ihm und rammte ihm die Stiefelspitze in den Unterleib.
Ein erstickter Schrei kam von den Lippen des Lektors. Er klappte zusammen. Gruschkow trat ihn in die Seite. Kuhn wimmerte und versuchte davonzukriechen. Die Kette der Handschellen straffte sich, Metall kreischte über Metall. Gruschkows Wut steigerte sich zur Raserei, und er trat weiter auf den am Boden liegenden Körper ein, bis das Wimmern erstarb.
Schwer atmend hielt er inne.
So war es gewesen damals. In Russland. Als er die Frau totgetreten hatte. Und das Kind. Das Kind hatte noch drei Tage gelebt. Diese schreckliche Wut, die ihn mitunter heimsuchte, dass er nicht mehr klar denken konnte, sie hatte sich seiner bemächtigt und seine Familie gefordert.
Bis an die Grenze der Amnesie hatte er den Tag verdrängt, und dennoch waren die Bilder der verkrümmten Körper immerzu präsent, selbst wenn er schlief. Der große, schlanke und der kleinere daneben. Auf dem Fußboden in der Küche. Dort, wo sie es getrieben hatte mit ihrem Liebhaber, den es gegeben haben musste! – Ungeachtet ihrer Beteuerungen, ein solcher Mann habe nie existiert.
Und das Kind, es hatte die Mutter beschützt. Auch das Kind war gegen ihn gewesen. Alle waren gegen ihn gewesen.
Man hatte ihn nicht gefasst.
Gruschkow war geflohen und hatte Leute um Hilfe gebeten, Leute mit Verbindungen, die andere Leute kannten. Teuer, das Ganze, aber er war ein hervorragender Wissenschaftler gewesen in Moskau, und er hatte ein bisschen Geld. Jana war auf ihn aufmerksam geworden und hatte ihn rausgeholt aus Russland. Nie hatte sie ihn verurteilt, obwohl sie sehr genau wusste, was er getan hatte.
Nie ein Wort des Vorwurfs. Stattdessen eine Karriere als Terrorist.
Es war so überraschend einfach gewesen, all diese Waffen zu entwickeln. Nicht in technischer Hinsicht, sondern an sich, als bereitwillig vollzogene Handlung. Waffen, mit denen Jana für Geld Menschen tötete. Es war so einfach geworden, kein Gewissen zu haben, dass er sich mitunter gefragt hatte, ob er je eines besessen hatte.
Und immer wieder kamen die Bilder aus der Küche über ihn.
Das war Janas einzige Bedingung gewesen. Nie wieder ein Wutanfall mit derartigen Folgen. Nichts dergleichen.
Der Lektor vor seinen Füßen rührte sich nicht. Gruschkow ging in die Hocke und streckte zögerlich die Hand nach ihm aus, zog sie wieder zurück, betrachtete ihn.
Es war zu spät. Er hoffte, dass der Mann noch lebte, aber er konnte nichts tun. Nur noch warten, bis Jana kam. Er schätzte, dass auch Mahder irgendwann aufkreuzen würde, falls der sich überhaupt noch irgendwo hintraute nach dem Fehlschlag. Gut möglich, dass sie alle schon gesucht wurden.
Ja, allerdings. Sehr gut möglich.
Besser, den YAG wieder einzufahren!
Gruschkow erhob sich, ging hinüber zu dem Schaltkasten und betätigte den Mechanismus. Klirrend schnappten die Arretierungsklammern zurück und gaben die Räder frei. Das Gefährt setzte sich in Bewegung und rollte aus dem Hof zurück in die Halle. Gruschkow wartete, bis es so weit im Innern war, dass er die Tore schließen konnte. Dann drückte er auf HALT. Unnötig, das ganze Riesending zurück bis in die Mitte der Halle fahren zu lassen. Wie es aussah, brauchten sie den YAG ohnehin nicht mehr.
Andererseits – man konnte nie wissen.
Sicherheitshalber warf er die Akkus wieder an. Binnen einer Stunde würde der YAG wieder einsatzfähig sein. Wofür auch immer.
Er schloss die Tore mit der Fernbedienung, strich sich über die Glatze und ging zurück in den Computerraum, um fernzusehen.
Sie hoben nicht ab.
Die Polizeimeisterin steuerte den Wagen in einer weiträumigen Kurve um das Vorfeld herum und hielt auf das VIP-Zelt zu, als wolle sie geradewegs hindurchfahren. Über Funk war zu hören, wie Lavallier den Befehl zum Abschuss gab. Während die Polizistin auf die Bremse trat und den Wagen mit quietschenden Reifen quer zum Zelt setzte, kamen die Abschussmeldungen der Scharfschützen durch.
O’Connor öffnete die Beifahrertür und sprang hinaus, kaum dass sie standen. Clinton war nicht zu sehen. Er begann, um den Wagen herum in Richtung Maschine zu laufen.
»He!« Die Polizistin war nicht weniger schnell draußen und packte ihn am Ärmel. »Was soll das werden?«
»Das Ende Ihrer Karriere, wenn Sie mich nicht auf der Stelle loslassen!«
»Sie rennen nirgendwohin!«
»Wofür sind wir dann wie die Irren hergebrettert?«, polterte O’Connor. »Ich muss näher heran.«
Sie warf ihm einen warnenden Blick zu. O’Connor erinnerte sich des Würgegriffs und griff unwillkürlich nach seinem Hals.
»Wir gehen da jetzt hin, aber zusammen«, sagte sie sehr bestimmt. »Und Sie bleiben dicht bei mir.«
»O’Connor, hören Sie mich?«
Lavalliers Stimme drang aus dem Funkgerät an ihrem Gürtel. Sie zog es heraus und drückte es O’Connor in die Hand.
»Wir haben zwei von den Dingern abgeschossen«, sagte Lavallier. »Lärmschutzhalle. UPS-Gebäude. Zwei Spiegel.«
»Sind Sie sicher?«, fragte O’Connor atemlos.
»Nein, ich mache Spaß. War’s das, verdammt? Besteht weiterhin Gefahr? Ich muss das wissen!«
O’Connors Augen suchten die umliegenden Gebäude ab. Der Tower war eindeutig zu hoch, um mit bloßem Auge etwas von der Größe eines Rasierspiegels erkennen zu können. Ohnehin wirkte von hier alles wieder ganz anders als von der Rollbahn aus oder auf der Luftaufnahme in Mahders Büro. Größer und unübersichtlicher.
Mahder.
»Sie können Entwarnung geben«, sagte er ruhig. »Wenn Sie zwei getroffen haben, ist das System vernichtet.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja. Ach, und Lavallier, damit Ihnen nicht langweilig wird – Sie haben einen Verräter.«
»Und?«, fragte Lex.
Lavallier seufzte und sah hinüber zur Gangway.
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