»Sie haben keine Zeit, irgendwas lahmzulegen«, sagte er eindringlich. »Sie kämpfen gegen die Lichtgeschwindigkeit, Lavallier! Es sind kleine Spiegel von zehn bis zwanzig Zentimetern Durchmesser. Keine üblichen Spiegel, transparentes Glas wahrscheinlich. Wenn Sie einen zerstört haben, ist das ganze System zum Teufel, also schießen Sie die Dinger ab, bevor Sie sonst was machen!«
»Wo?«, rief Lavallier. »Wo, O’Connor?«
»An der Lärmschutzhalle.«
»Da war nichts.«
»Es muss einer da sein!«
Der Wagen schlitterte mit quietschenden Reifen in die nächste Kurve. Plötzlich waren sie auf einer bemerkenswert breiten Straße und jagten in einigem Abstand an der Halle und der geparkten Air Force One vorbei. Wie es aussah, umfuhr die Polizistin das Vorfeld weiträumig. O’Connors Blick glitt über die Gebäude, die sich hinter der Halle erhoben.
»Zweite Möglichkeit, der Tower«, sagte er schnell. »Oder das Gebäude davor, das große gelbe.«
Er sah hinüber zu der Polizistin, die unerbittlich das Gaspedal durchdrückte.
»So wie Sie fahren, heben wir gleich ab.«
»Das wäre kein Problem«, erwiderte sie trocken. »Wir sind auf der Startbahn.«
»Das hat alles viel zu viel Zeit gekostet«, stellte Clinton fest.
Er hatte sein Büro verlassen und war nach vorne gekommen, wo die Crew und die Bodyguards bereitstanden. Der Präsident sah großartig aus. Vielleicht machte er selbst in seinen schwärzesten Stunden noch die sprichwörtlich gute Figur, weil er sie tatsächlich besaß. Bill Clinton überragte die meisten Menschen, nicht unbedingt an Charakter, dafür aber an Statur und sichtbarer Würde. Der dunkle Anzug saß perfekt, die leuchtend blaue Krawatte schien den gleichen Optimismus und die unerschütterliche Zuversicht auszustrahlen wie das Gesicht darüber, an dessen ewiger Jugend auch der weiße Schopf nichts ändern konnte.
Ein bisschen war Guterson stolz darauf, dass sein Präsident sich nicht die Haare färbte, wie es Reagan getan hatte, oder von der Aura eines Besenstiels umgeben war wie Bush.
Das erste Mal seit langem war Clinton wieder uneingeschränkt guter Laune. Die Nato hatte den Krieg der Werte gewonnen. Im Nachhinein hätte ihm kaum etwas Besseres passieren können als Slobodan Milosevic. Dem Bombengewitter über Belgrad war gewissermaßen auch eine kleine, dickliche Praktikantin zum Opfer gefallen. Die Stadt des Friedens hatte den roten Teppich ausgerollt, nicht nur für den Präsidenten der Vereinigten Staaten, sondern für den legitimierten Feldherrn der freien Welt. Es war eine unglückliche Fügung, dass die gute Laune des Präsidenten durch die Verspätung getrübt worden war.
»Gut, Norman«, sagte Clinton. »Sind wir so weit?«
Hinter ihm machten sich die Bodyguards bereit, die Air Force One zusammen mit dem Präsidenten zu verlassen. Guterson warf einen letzten Blick durch das kleine Fenster in der Tür und trat einen Schritt zurück.
»Aufmachen«, sagte er.
Der Tower. Das UPS-Gebäude. Die Lärmschutzhalle.
Irgendwo schien eine Uhr zu ticken, um ihn mit jeder verstreichenden Sekunde daran zu erinnern, dass er nicht zwei Dinge gleichzeitig tun konnte.
Lavallier starrte auf die Lärmschutzhalle.
Er hätte beides gleichzeitig tun müssen, Lex Bescheid geben, der ein Stück weiter unter der Tragfläche stand, und die Scharfschützen anweisen. Fatalerweise ging es nicht zur gleichen Zeit. Also fiel die Entscheidung für die Reihenfolge: Erst die Schützen. Dann Lex.
»An alle«, sagte er ins Funkgerät. »Eiszeit 0. Ausschau halten nach Spiegeln oder Glasplatten, Durchmesser zehn bis zwanzig Zentimeter, an der Lärmschutzhalle, möglicherweise am Tower und am UPS-Gebäude. Abschießen, wo immer ihr die Dinger seht.«
Dann fiel ihm noch etwas ein.
»Schalldämpfer«, fügte er hastig hinzu. »Kein Geballere!«
Alles, was ihm zum Glück noch fehlte, war eine Panik, wenn es plötzlich anfing zu knallen.
Im selben Moment veränderte sich hinter ihm die Geräuschkulisse.
Lavallier fuhr herum und sah, dass sich die Tür der Air Force One geöffnet hatte.
Ein Mann trat heraus. Lavallier kannte sein Gesicht von Fotos. Es war Norman Guterson, Clintons Sicherheitschef, der jetzt die Empore der Gangway betrat und einen routinierten Blick auf das Vorfeld warf. Dann gab er ein Zeichen ins Innere der Maschine.
Lavallier stöhnte auf. Er wusste, was das Zeichen zu bedeuten hatte.
Guterson winkte den Präsidenten nach draußen.
Jana sah durch den Sucher der Nikon und drehte am vorderen Ring des Teleobjektivs. Ein Funksignal erreichte Gruschkows Laptop in der Spedition dreieinhalb Kilometer weiter, durchlief das Programm und veranlasste es, seinerseits zwei Signale zurückzuschicken, eines zur Lärmschutzhalle, ein weiteres zum UPS-Gebäude, dem großen gelben Bauwerk gleich unterhalb des Towers.
Die Scharfschützen auf dem Dach des UPS-Gebäudes richteten ihre Aufmerksamkeit auf den Tower und die Lärmschutzhalle. Sie wussten, dass es wenig Zweck hatte, ihren eigenen Standort zu observieren, das taten andere auf den gegenüberliegenden Dächern und Fluggastbrücken. So entging ihnen, was sich in dem Wäldchen aus Belüftungsrohren und Antennen vollzog, das der Mitte des Daches entspross und einige Meter weit in den Himmel ragte. Keiner von ihnen sah, wie sich im oberen Bereich ein doppelt handbreites Stück Rohrverkleidung nach unten schob. Niemand hörte es, weil der Mechanismus nahezu geräuschlos arbeitete. Der Vorgang vollzog sich innerhalb von zwei Sekunden und gab eine rechteckige, bläulich schimmernde Glasscheibe von zwanzig Zentimetern Kantenlänge frei. Auch die Scharfschützen auf den anderen Gebäuden, den erhöhten Gangway-Positionen und die Beobachter im Tower übersahen, was passierte. Vermutlich übersahen sie es vor lauter Konzentration.
Gleichzeitig öffnete sich am außen umlaufenden Gestänge der Lärmschutzhalle, zwölf Meter über dem Erdboden, eine zweite Klappe. Sie war so nahtlos in die gebogene Fläche eingefügt worden, dass man die Ränder selbst aus kürzester Distanz nicht hatte wahrnehmen können. Die Fernsteuerung zog die kleine metallene Fläche leicht nach innen und schob sie seitlich in das Rohr. Auch dieser Mechanismus, in seiner Funktionsweise nicht komplizierter als die Schublade eines CD-Players, gab keinerlei Geräusch von sich. Die entstandene Öffnung war noch kleiner als das Pendant am Belüftungsrohr des UPS-Gebäudes und weder vom Boden noch von den anderen Standorten aus zu erkennen, sofern man nicht genau wusste, wo man hinzusehen hatte.
Dahinter wurde ein Kameraobjektiv sichtbar. Vor der Linse schimmerte eine ebensolche Glasplatte wie drüben am UPS- Gebäude, nur dass diese hier erheblich kleiner und dem Objektiv beweglich vorgelagert war. Das ganze Gebilde maß nicht mehr als zehn Zentimeter im Quadrat der Platte und fünfundzwanzig Zentimeter in der Länge. Es schob sich auf einem Schlitten ein kurzes Stück ins Freie, über ein Drehgelenk damit verbunden, und richtete sein geschliffenes Auge auf die Air Force One.
Im Sucher der Kamera sah Jana, was das Objektiv im Gestänge übermittelte. Es schickte das Bild auf digitalem Wege in die Nikon. Jana drehte an den Ringen des Tele, und das Objektiv hoch oben drehte sich auf dem Kugelgelenk mit. Wenige Grade reichten, um die geöffnete Tür der Air Force One in den Blick zu bekommen.
Ein Mann war darin zu sehen, der ins Innere der Maschine winkte. Jana wusste, dass er zum Sicherheitsstab des Präsidenten gehörte. Dann erschien Clinton selbst im Türrahmen.
Die Konstruktion des Zielobjektivs hatte ihnen das meiste Kopfzerbrechen bereitet. Ursprünglich war die Glasplatte starr auf das Objektiv montiert gewesen. Dann hatten sie eine ebenso einleuchtende wie bestürzende Entdeckung gemacht. Sie schossen daneben. Bewegte sich das Objektiv um zehn Grad, um das Ziel zu fokussieren, veränderte sich der Austrittswinkel des Laserstrahls um zwanzig Grad. Das Objektiv mochte sein Ziel erfassen, aber man würde dennoch niemals treffen können.
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