Nach Sardiniens warmer Wintersonne kam ihr New York wie Sibirien vor. Die Straßen waren voll Schnee und Matsch, und vom Hast River fegte ein eiskalter Wind. Elizabeth machte das nichts aus. Sie lebte in Polen, in einem anderen Jahrhundert, erlebte die Abenteuer ihres Ururgroßvaters, teilte sein Schicksal. Jeden Nachmittag, gleich nach der Schule, eilte sie in ihr Zimmer, schloss sich ein und holte das Buch hervor. Ein paarmal hatte sie erwogen, mit ihrem Vater darüber zu sprechen, aber sie unterließ es aus Angst, er könne ihr den Band wegnehmen.
Elizabeth merkte, ihr war ein herrliches, unerwartetes Wunder beschert worden: Der alte Samuel gab ihr Mut, half ihr, in der Welt zu bestehen. Wie sehr sie doch einander ähnelten! Samuel war ein Einzelgänger, hatte niemanden, dem er sich anvertrauen konnte. Ganz genau wie ich, dachte Elizabeth. Und weil sie fast im gleichen Alter waren, wenngleich ein Jahrhundert auseinander, konnte sie sich ganz mit ihm identifizieren.
Samuel wollte Arzt werden.
Im Ghetto von Krakau waren nur drei Ärzte zugelassen, für Tausende von Menschen, die in dem ungesunden, von Epidemien bedrohten Pferch leben mussten. Der wohlhabendste von den dreien war Dr. Zeno Wal. Aus der ärmlichen Umgebung ragte sein Haus hervor wie ein Königspalast inmitten eines Elendsviertels, drei Stockwerke hoch, die Fenster geschmückt mit frischgewaschenen, spitzenverzierten Gardinen; dahinter konnte man flüchtig den Glanz polierter Möbel erkennen. Samuel malte sich den Arzt in seinem prächtigen Heim aus, wie er seine Patienten versorgte, sie heilte, all das, was er selbst sich als Lebensinhalt ersehnte. Sicherlich könnte jemand wie Dr. Wal ihm helfen, Arzt zu werden, dachte Samuel, wenn er ihn nur für sich einnehmen konnte. Aber von Samuels Warte aus war Dr. Wal ebenso unerreichbar wie die Glücklichen, die außerhalb der Ghettomauern lebten.
Hin und wieder beobachtete Samuel aus gebührendem Abstand den großen Dr. Zeno Wal, wie er in ernster Unterhaltung mit einem Kollegen durch die Straßen wandelte. Als Samuel eines Tages am Waischen Haus vorbeikam, ging die Tür auf, und der Doktor trat mit seiner Tochter heraus. Sie war ungefähr in Samuels Alter und das liebreizendste Geschöpf, das er je gesehen hatte. Im selben Augenblick wusste er, sie würde seine Frau werden. Er hatte keine Ahnung, wie er das bewerkstelligen sollte, wusste nur, dass es geschehen würde.
Danach fand Samuel jeden Tag irgendeinen Vorwand, sich bei dem Haus von Dr. Wal aufzuhalten, immer in der Hoffnung, die Tochter für einen Augenblick zu Gesicht zu bekommen.
Eines Nachmittags, als ein Botengang Samuel an dem Haus vorbeiführte, hörte er Klaviermusik und wusste sofort: Das konnte nur sie sein. Er musste sie sehen. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass er unbeobachtet war, schlich Samuel sich an die Seite des Hauses. Die Musik kam vom oberen Stockwerk, aus einem Fenster direkt über seinem Kopf. Samuel trat zurück und betrachtete die Hauswand. Es gab Mauervorsprünge genug, wo er Halt finden konnte, und ohne einen Moment zu zögern, machte er sich an den Aufstieg. Doch der erste Stock war höher, als es von unten ausgesehen hatte, und bevor er das Fenster erreichte, war er schon über drei Meter vom Boden entfernt. Er blickte hinunter, und ein Schwindelgefühl erfasste ihn. Aber die Musik klang lauter als vorher. Er spürte: Sie spielte für ihn. Also nahm er sich zusammen, klammerte sich an den nächsthöheren Halt und zog sich vollends aufs Fenstersims. Ganz langsam hob er den Kopf, um nach drinnen zu blicken. Durch die Scheibe sah er ein erlesen möbliertes Wohnzimmer. Das Mädchen saß an einem weiß-goldenen Klavier und spielte, und dahinter hatte es sich Dr. Wal in einem Sessel bequem gemacht, ein Buch vor den Augen. Samuel verschwendete kaum einen Blick an ihn, er konnte immer nur das schöne Mädchen dort, kaum ein paar Meter von ihm entfernt, anstarren. Er liebte sie! Er würde etwas unternehmen, etwas ganz Waghalsiges und Spektakuläres, damit sie ihm ihre Liebe schenkte. Er würde... So versunken war Samuel in seinen Tagtraum, dass er den Halt lockerte und unversehens die Reise in die Tiefe antrat. Er stieß einen Schrei aus, sah nur noch, wie ihn von drinnen zwei erschreckte Gesichter anstarrten.
Als er aufwachte, lag er auf einem Behandlungstisch in Dr. Wals Praxis, die mit zahlreichen Medizin- und Instrumentenschränken ausgestattet war. Dr. Wal hielt Samuel einen stinkenden Wattebausch unter die Nase. Samuel würgte und setzte sich auf.
»Na, das ist schon besser«, meinte der Arzt. »Eigentlich sollte ich dir das Gehirn herausoperieren, aber ich bezweifle, dass du eins hast. Also, Junge, was wolltest du stehlen?«
»Nichts.« Samuel war entrüstet.
»Wie heißt du?«
»Samuel Roffe.«
Der Arzt tastete das rechte Handgelenk ab, und der Junge schrie vor Schmerz laut auf.
»Hm. Du hast dir das Gelenk gebrochen, Samuel Roffe. Das Richten sollten wir vielleicht besser der Polizei überlassen.«
Samuel stöhnte, diesmal vor Angst. Er sah vor sich, was ihn erwartete, wenn die Polizei ihn wie einen Sünder zu Hause ablieferte. Seiner Tante Rachel würde auf der Stelle das Herz brechen, sein Vater ihn umbringen. Jedoch, was weit wichtiger war: Wie konnte er jetzt noch hoffen, jemals Dr. Wals Tochter zur Frau zu gewinnen? War er von nun an nicht ein Verbrecher, ein Gezeichneter? Samuel fühlte unvermutet einen stechenden Schmerz an seinem Handgelenk und sah voller Entsetzen zu Dr. Wal auf.
»Schon gut«, sagte dieser. »Das Gelenk ist wieder eingerenkt.« Und er machte sich daran, den Arm zu schienen. »Lebst du hier in der Nachbarschaft, Samuel?«
»Nein, Herr Doktor.«
»Aber ich hab’ dich doch schon hier herumlungern sehen.«
»Ja, das stimmt.«
»Warum?«
Warum? Wenn Samuel die Wahrheit sagte, würde ihn der Arzt auslachen.
»Ich will auch Arzt werden«, entfuhr es ihm; er hatte nicht an sich halten können.
Und plötzlich hörte Samuel seine eigene Stimme, hörte sich die ganze Geschichte preisgeben. Er erzählte, wie seine Mutter auf der Straße umgekommen war, berichtete von seinem Vater, über seinen ersten Besuch in Krakau und seine Verzweiflung darüber, jeden Abend wie ein Tier in das Ghetto eingesperrt zu werden. Er sprach von seinen Gefühlen für Dr. Wals Tochter, sagte alles, was sich in ihm angestaut hatte, und der Arzt hörte schweigend zu. Sein Bericht kam ihm selbst lachhaft und albern vor, und als er geendet hatte, fügte er schüchtern hinzu: »Ich - ich bitte um Entschuldigung. Es tut mir so leid.«
Dr. Wal sah ihn lange an. »Mir tut es auch leid«, sagte er schließlich. »Für dich und für mich, für uns alle. Jeder Mensch ist ein Gefangener, und die größte Ironie ist, Gefangener eines anderen Menschen zu sein.«
Samuel sah erstaunt zu ihm auf. »Das verstehe ich nicht.«
Der Doktor seufzte. »Eines Tages wirst du es verstehen.« Langsam erhob er sich, ging zu seinem Schreibtisch, wählte eine Pfeife aus und stopfte sie sorgfältig. »Ich fürchte, das ist ein rabenschwarzer Tag für dich, Samuel.«
Er zündete die Pfeife an, blies das Streichholz aus und wandte sich wieder dem Jungen zu. »Damit meine ich nicht dein gebrochenes Handgelenk. Das heilt schon wieder. Aber ich sehe mich gezwungen, dir etwas anzutun, was keineswegs so schnell heilen wird.« Samuel beobachtete ihn mit großen Augen. Dr. Wal trat zu ihm. Seine Stimme klang sanft und freundlich. »Sehr wenig Leute haben jemals einen Traum. Du, Samuel, hast zwei Träume. Ich fürchte, ich muss sie dir beide zerstören.«
»Ich -«
»Hör mir einmal gut zu, Samuel. Du wirst nie Arzt werden können, nicht hier in unserer Welt. Im Ghetto dürfen nur drei von uns praktizieren. Und es gibt hier Dutzende hervorragender Ärzte, die nur darauf warten, unseren Platz einzunehmen, wenn einer von uns sich zur Ruhe setzt oder stirbt. Du hast also keine Chance. Nicht die geringste. Du bist zur falschen Zeit und am falschen Ort geboren. Verstehst du, was ich damit sagen will?«
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