Danach, drei Tage lang nichts, oder waren es fünf? Der Ostrakowa rann jetzt auch die Zeit durch die Finger, wie Geld. Drei oder fünf, sie waren weg, es hatte sie nie gegeben. Alles war nur ihre »Ausschmückerei«, wie der Magier es genannt hatte, ihre dumme Gewohnheit, zuviel zu sehen, zuvielen Leuten in die Augen zu schauen, zuviele Episoden zu erfinden. Bis heute früh, als sie wieder da waren. Nur daß heute fünfzigtausendmal schlimmer war, denn heute war jetzt , und die Straße war heute so leer wie am letzten Tag oder am ersten, und der Mann, der sich fünf Meter hinter ihr hielt, kam näher, und der Mann, der unter Merciers gefährlich herabhängender Markise gegangen war, überquerte die Straße, um sich zu seinem Kollegen zu gesellen.
Was dann geschah, hätte nach den Kenntnissen oder Vorstellungen der Ostrakowa wie der Blitz passieren müssen. In dem einen Augenblick ging man noch aufrecht die Straße entlang, im nächsten wurde man unter einem Geflirr von Lichtern und dem Geheul von Sirenen auf einen Operationstisch geweht, den Chirurgen mit verschiedenfarbigen Gesichtsmasken umstanden. Oder man war im Himmel vor dem Allmächtigen und murmelte Entschuldigungen wegen gewisser Fehltritte, die man nicht wirklich bedauerte; und Er- wenn man Ihn recht verstand -, auch nicht. Oder, und das war das Schlimmste, man kam davon und wurde als gehfähiger Verwundeter nach Hause entlassen, und die lästige Halbschwester Valentina ließ höchst ungehalten alles liegen und stehen, um aus Lyon herbeizueilen und am Krankenbett dauernd auf einen herunterzukeifen.
Keine dieser Annahmen traf zu.
Alles ging mit der Langsamkeit eines Unterwasserballetts vor sich. Der Mann, der zu ihr aufschloß, hielt sich rechts und ging an der Häuserseite neben ihr her. Der Mann, der bei Merciers Laden die Straße überquert hatte, hielt sich links von ihr, nicht auf dem Trottoir, sondern im Rinnstein, wobei er sie bei jedem Schritt mit dem Regenwasser von gestern anspritzte. Mit ihrer fatalen Angewohnheit, anderen Leuten in die Augen zu schauen, starrte die Ostrakowa auf ihre beiden Begleiter und sah Gesichter, die sie bereits identifiziert hatte und auswendig kannte. Sie hatten Ostrakow gejagt, sie hatten Glikman ermordet, und ihrer persönlichen Ansicht nach ermordeten sie schon seit Jahrhunderten das ganze russische Volk, sei es im Namen des Zaren, Gottes oder Lenins. Als ihr Blick sich von ihnen löste, sah sie den schwarzen Wagen, der ihr auf dem Weg zur Kirche gefolgt war, langsam die leere Straße entlang auf sich zufahren. Also tat sie genau das, was sie die ganze Nacht lang geplant, sich, während sie wach lag, ausgedacht hatte. In ihrer Einkaufstasche steckte heute ein altes Bügeleisen, ein Stück Trödel, den Ostrakow in den Tagen erworben hatte, als der arme sterbende Mann sich einbildete, mit dem Antiquitätenhandel ein paar zusätzliche Francs verdienen zu können. Die Einkaufstasche war aus grünen und braunen Lederflecken und sehr stabil. Die Ostrakowa holte nach hinten aus, ließ die Tasche kreisen und schwang sie mit aller Kraft nach dem Mann im Rinnstein - nach seinen Leisten, dem verhaßten Sitz seiner Schlechtigkeit. Er fluchte - in welcher Sprache, konnte sie nicht hören - und ging in die Kniee. Von hier an kam ihr Plan ins Schleudern. Sie hatte nicht mit zwei Wegelagerern, einem rechts, einem links, gerechnet, und sie brauchte Zeit, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen und das Plätteisen nach dem zweiten Mann zu schwingen. Er ließ sie nicht dazu kommen. Er schlang seine Arme um die ihren, packte sie wie den Fettsack, der sie war, und hob sie in die Luft. Sie sah ihre Tasche fallen und hörte das Scheppern des Bügeleisens, als es aus der Tasche auf einen Kanaldeckel fiel. Wie sie so immer noch nach unten blickte, sah sie, daß ihre Stiefel zehn Zentimeter über dem Boden baumelten, als hätte sie sich aufgehängt wie ihr Bruder Niki - seine Füße waren genauso verdreht gewesen wie die eines Schwachsinnigen. Sie bemerkte, daß eine ihrer Stiefelkappen, die linke, bei der Keilerei verkratzt worden war. Die Arme ihres Angreifers schlössen sich noch enger um ihre Brust, und sie fragte sich, ob wohl ihre Rippen brechen würden, ehe sie erstickte. Sie fühlte, wie der Mann sie nach hinten bog und vermutete, daß er Stand fassen wollte, um sie in den Wagen zu schwingen, der nun ziemlich schnell näherkam: daß sie entführt werden sollte. Diese Vorstellung entsetzte sie. Nichts, am wenigsten der Tod, erschien ihr in diesem Augenblick so schrecklich wie der Gedanke, diese Schweine würden sie nach Rußland zurückbringen und jenem langsamen doktrinären Gefängnistod ausliefern, an dem, dessen war sie sicher, Glikman zugrunde gegangen war. Sie wehrte sich mit aller Kraft, brachte es fertig, ihn in die Hand zu beißen. Sie sah ein paar Passanten, die genauso verschreckt zu sein schienen wie sie selber. Dann bemerkte sie, daß der Wagen nicht verlangsamte und daß die Männer etwas ganz anderes im Sinn hatten: Man wollte sie keineswegs entführen, man wollte sie töten.
Er schleuderte sie.
Sie trudelte, stürzte aber nicht, und als der Wagen ausbog, um sie zu überrollen, dankte sie Gott und allen seinen Engeln, daß sie sich doch noch zu den Winterstiefeln entschlossen hatte, denn die Stoßstange traf sie an den Wadenbeinen, und als sie ihre Füße wiedersah, waren sie in gerader Linie vor ihrem Gesicht, und ihre bloßen Schenkel waren gespreizt wie bei einer Geburt. Eine Weile flog sie, und schlug dann mit allem zugleich aufs Pflaster -mit dem Kopf, dem Rückgrat und den Fersen -, rollte danach wie eine Wurst über die Steine. Der Wagen war vorüber, aber sie hörte ihn kreischend anhalten und fragte sich, ob er wohl umkehren und sie nochmals überfahren werde. Sie versuchte, sich zu bewegen, fühlte sich aber zu schläfrig. Sie hörte Stimmen und das Schlagen von Autotüren, sie hörte den Motor aufbrüllen und verklingen, also entfernte er sich entweder, oder sie verlor das Gehör.
»Nicht anfassen«, sagte jemand.
»Nein, bitte nicht«, dachte sie.
»Es ist nur der Mangel an Sauerstoff«, hörte sie sich sagen. »Helfen Sie mir auf die Beine, und alles ist wieder gut.«
Warum sagte sie das? Oder dachte sie es nur?
»Auberginen«, sagte sie. »Holen Sie die Auberginen.« Sie wußte nicht, ob sie von ihren Einkäufen sprach oder von den Politessen, die wegen der Farbe ihrer Uniform im Pariser Argot so hießen.
Dann legten ein Paar Frauenhände eine Decke über sie, und es entspann sich eine hitzige gallische Auseinandersetzung über das, was nun zu tun sei. Hat jemand die Nummer aufgeschrieben? wollte sie fragen. Aber sie war wirklich zu schläfrig dazu, und zudem fehlte es ihr an Sauerstoff- der Sturz hatte ihn ein für allemal aus ihrem Körper gequetscht. In Erinnerung an russische Landschaften hatte sie eine Vision von angeschossenen Vögeln, die hilflos am Boden flatterten und auf den Biß der Hunde warteten. General, dachte sie, haben Sie meinen zweiten Brief bekommen? Im Hinübergleiten forderte sie ihn auf, beschwor ihn, den Brief zu lesen und auf sein Flehen einzugehen. General, lesen Sie meinen zweiten Brief.
Vor einer Woche hatte sie ihn in einem Augenblick der Verzweiflung geschrieben und ihn gestern, in einem ebensolchen Augenblick, aufgegeben.
In der Gegend der Paddington Station gibt es viktorianische Häuserblocks, die außen strahlend weiß sind, wie Luxusdampfer, und innen dunkel wie Gräber. Westbourne Terrace glänzte an diesem Samstagmorgen so hell wie nur irgendeines der Gebäude, doch die Dienstboten- und Lieferantenanfahrt, die zu Wladimirs Behausung führte, wurde am einen Ende von einem Haufen faulender Matratzen blockiert und am anderen durch einen zersplitterten Schlagbaum, gleich einer Grenzschranke.
»Vielen Dank, ich steige hier aus«, sagte Smiley höflich bei den Matratzen und bezahlte den Taxifahrer.
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