Tracy mußte gedöst haben, denn sie schreckte hoch, als der Container vomBoden gehoben wurde. Eine schwingendeBewegung, und Tracy stützte sich an den Seitenwänden ab. Der Container kam auf etwas Hartem zum Stehen. Eine Tür knallte, ein Motor röhrte, und einen Augenblick später fuhr der Lastwagen los.
Es ging zum Flughafen.
Der Plan war auf die Sekunde genau ausgeklügelt. Der Container mit Tracy sollte ein paar Minuten vor Eintreffen des De‑Beers‑Containers auf der Laderampe stehen. Der Lastwagenfahrer hatte Weisung, eine Richtgeschwindigkeit von 70 km/h zu halten.
An diesem Morgen schien der Verkehr auf der Straße zum Flughafen dichter als sonst, aber dasbereitete dem Fahrer kein Kopfzerbrechen. Der Container würde rechtzeitig anBord sein, und erbekam dafür fünfzigtausend Francs, genug für eine schöne Urlaubsreise mit seiner Frau und seinenbeiden Kindern.
Er schaute auf die Uhr am Armaturenbrett und lächelte in sich hinein. Kein Problem. Der Flughafen war knapp fünf Kilometer entfernt, und er hatte noch zehn Minuten Zeit.
Genau nach Plan erreichte er die Abzweigung, die zur gewaltigen Lagerhalle des Flughafens führte. Als er auf das eingezäunte Gelände zuhielt, gabes plötzlich einen lauten Knall. Das Lenkrad schlug aus, und ein Zittern durchlief den Lastwagen.
Scheiße! dachte der Fahrer. Eine Reifenpanne. Ausgerechnet jetzt.
Das riesige Transportflugzeug der Air France, eineBoeing 747, stand an der Laderampe. Die Fracht warbeinah komplett anBord. Ramon Vauban schaute zum x‑ten Mal auf seine
Armbanduhr und fluchte. Der Lastwagen war überfällig. Das Päckchen von DeBeers lag schon in seiner Kiste; die Plane warbereits mit Stricken festgezurrt. Vauban hatte auf die Seite der Kiste einen roten Punkt gemalt, damit die Frau sie gleich finden konnte. Und nun sah er zu, wie die Kiste über Ladeschienen und Ladebrücke ins Flugzeug glitt und an ihren Platz gestellt wurde. Daneben war Raum für eine weitere Kiste. Drei Container mußten noch verladen werden. Es wurde allmählich Zeit, daß die Maschine abflog. Verdammt und zugenäht, wobliebdie Frau?
Ein Kollege im Flugzeug rief:»Los, Ramon! Was hält uns noch auf?«
«Eine Sekunde«, entgegnete Vauban. Er eilte zum Ende der Laderampe. Keine Spur von dem verfluchten Lastwagen.
«Vauban! Was ist?«Er drehte sich um. Einer seiner Vorgesetzten näherte sich.»Jetzt machen Sie mal Dampf hinters Verladen! Die Maschine muß an den Start!«
«Ja, Monsieur. Ich habe nur noch darauf gewartet, daß…«
Und in diesem Moment raste der Lastwagen vonBrucere & Cie in die Lagerhalle und hielt mit kreischendenBremsen vor Vauban.
«Das ist das letzte Stück Fracht«, sagte Vauban.
«Gut, dann sorgen Sie dafür, daß es schleunigst anBord kommt«, knurrte sein Vorgesetzter.
Vauban tat wie geheißen.
Sekunden später war die Verladung abgeschlossen. Die Triebwerke wurden gezündet, das Flugzeug rollte zur Startbahn, und Vauban dachte: Jetzt hängt alles von der Frau ab.
Es tobte ein wilder Sturm. Eine gewaltige Woge hatte das Schiff erfaßt, und es sank. Ich ertrinke, dachte Tracy. Ich muß hier raus.
Sie streckte die Arme aus und stieß gegen etwas. Ein
Rettungsboot, das auf den Wellen tanzte. Sie wollte aufstehen und knallte mit dem Kopf gegen ein Tischbein. In einem klaren Moment fiel ihr wieder ein, wo sie war. Ihr Gesicht und ihr Haar waren schweißnaß. Sie fühlte sich entsetzlich schwindlig, und ihr Körper wurde von Hitze verzehrt. Wie lang war sie ohnmächtig gewesen? Der Flug dauerte nur eine Stunde. Setzte die Maschine schon zur Landung an? Nein, dachte Tracy. Es ist alles in Ordnung. Ich liege in meinemBett in London. Aber ich muß den Arzt anrufen. Sie konnte kaum atmen. Sie rappelte sich hoch, um nach dem Telefon zu greifen, und sank sofort wieder mitbleischweren Gliedern zurück. Die Maschine geriet in eine Turbulenz, und Tracy wurde gegen eine Seitenwand des Containers geworfen. Sie lagbenommen da und versuchte verzweifelt, sich zu konzentrieren. Wieviel Zeitbleibt mir noch? Sie schwankte zwischen einem höllischen Alptraum und der qualvollen Wirklichkeit. Die Diamanten. Irgendwie mußte sie an die Diamanten herankommen. Aber erst… erst mußte sie raus aus ihrer Kiste.
Sie zog das Messer aus ihrem Overall und stellte fest, daß es furchtbar mühsam war, den Arm zu heben. Luft, dachte Tracy. Ichbrauche Luft. Sie faßte um den Rand der Plane herum, tastete nach einem der Stricke draußen und schnitt ihn durch. Es schien eine Ewigkeit zu dauern. Die Plane öffnete sich ein Stück. Tracy schnitt einen weiteren Strick durch, und nun konnte sie nach draußen kriechen. Es war kalt im Laderaum der Maschine. Tracy fror. Siebegann am ganzen Leibzu zittern, und die Schüttelbewegung des Flugzeugs vermehrte ihre Übelkeit. Ich muß amBallbleiben, dachte Tracy. Siebesann sich.
Was mache ich hier? Irgendwas Wichtiges… ja, richtig, die Diamanten.
Alles verschwamm ihr vor Augen. Ich schaff's nicht.
Das Flugzeug sackte plötzlich durch, und Tracy fiel hin und schürfte sich die Hände an den scharfen Metallschienen auf demBoden auf. Sie hielt sich an den Schienen fest. Dann lag die Maschine wieder ruhig in der Luft, und Tracy zwang sich zum Aufstehen. Das Dröhnen der Triebwerke mischte sich mit dem Dröhnen in ihrem Kopf. Die Diamanten. Ich muß die Diamanten finden.
Sie stolperte zwischen den Containern dahin, suchte nach dem mit dem roten Punkt. Gott sei Dank! Da war er. Sie stand davor und überlegte. Was hatte sie als nächstes zu tun? Es war so entsetzlich anstrengend, sich zu konzentrieren. Wenn ich ein paar Minuten schlafen könnte, wäre alles in Ordnung. Ichbrauche nur einbißchen Schlaf. Aber sie hatte keine Zeit. Die Maschine konnte jeden Moment in Amsterdam landen. Tracy schloß die Finger um den Messergriff und säbelte an den Stricken des Containers herum.
Sie konnte das Messer kaum halten. Aber jetzt muß es gehen, dachte sie. Siebegann wieder zu zittern, und sie zitterte derart, daß ihr das Messer aus der Hand fiel. Nein, es klappt doch nicht. Sie werden mich schnappen und mich wieder ins Gefängnis stecken.
Sie zögerte, hielt sich unschlüssig an dem Strick fest, wünschte sich sehnlich in ihre Kiste zurück. Dort konnte sie schlafen, bis alles vorbei war… Trotz des wilden Pochens in ihrem Kopf streckte Tracy langsam die Hand nach dem Messer aus und hobes auf. Wieder säbelte sie an dem Strick herum.
Und jetzt hatte sie ihn endlich durchgeschnitten. Sie zog die Planebeiseite und starrte in den Container. Sie konnte nichts erkennen. Sie holte die Taschenlampe aus ihrem Overall und spürte im selben Moment eine jähe Druckveränderung in den Ohren.
Das Flugzeug ging tiefer, würdebald landen.
Tracy dachte: Ich muß mich beeilen. Aber ihr Körper reagierte nicht. Benommen stand sie da. Tu was, befahl sie sich.
Sie leuchtete ins Innere des Containers. Er war voll von Paketen und Umschlägen und Schachteln. Auf einer Lattenkiste standen zweiblaue Kästchen mit rotemBand. Zwei! Es sollte doch nur eins sein… Tracyblinzelte, und diebeiden Kästchen verschmolzen zu einem.
Sie griff nach dem Kästchen und fingerte das Duplikat aus ihrer Tasche. Sie hielt diebeiden Kästchen in der Hand, und es überfiel sie eine plötzliche Übelkeit. Sie kniff die Augen zusammen, kämpfte dagegen an, wollte das Duplikat auf die Lattenkiste stellen und mußte entdecken, daß sie nicht mehr genau wußte, welches Kästchen das richtige war. Sie starrte diebeiden Kästchen an. War es das in ihrer linken oder das in ihrer rechten Hand?
Die Maschine zog jetzt steil nach unten. Sie würde jeden Moment landen. Tracy mußte sich entscheiden. Sie stellte das eine Kästchen auf die Lattenkiste, betete, daß es das richtige sein möge, und trat von dem Container zurück. Sie holte das zusammengerollte Seil aus ihrem Overall. Irgendwas muß ich damit machen. Das Dröhnen in ihrem Kopf hinderte sie am Denken. Dann fiel es ihr wieder ein: Wenn Sie den Strick durchgeschnitten haben, schieben Sie ihn in die Tasche undbinden das Seil, das Sie dabei haben, um den Container.
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