Der Empfangschef war nicht zur Arbeit erschienen, als Erlendur am nächsten Morgen in die Lobby kam und nach ihm fragte. Keiner wusste, warum, er hatte nicht angerufen und sich krank gemeldet oder gesagt, dass er sich freinehmen würde, um irgendetwas zu erledigen. Eine Frau Mitte dreißig sagte Erlendur, dass es in der Tat ziemlich merkwürdig sei, dass der Empfangschef nicht zur festgesetzten Zeit bei der Arbeit erschienen war, denn der Mann sei immer superpünktlich. Und ganz unbegreiflich, dass er nicht angerufen hatte, falls er sich freinehmen wollte.
Sie berichtete Erlendur alles sehr freimütig, immer wieder unterbrochen von einer Mitarbeiterin des Krankenhauslabors, die ihr die Speichelprobe entnahm. Insgesamt drei Laborantinnen waren damit beschäftigt, die genetischen Fingerabdrücke des Hotelpersonals zu erfassen. Einige andere gingen zu den Privatadressen derer, die frei hatten.
Bald würden die Speichelproben aller derzeitigen Hotelangestellten vorliegen, um mit dem Speichel am Kondom des Weihnachtsmanns verglichen zu werden.
Kriminalpolizisten vernahmen die Angestellten, um festzustellen, inwieweit sie mit Guðlaugur bekannt gewesen waren, und wo jeder Einzelne sich gestern am späten Nachmittag aufgehalten hatte. Die gesamte Mordkommission beteiligte sich an jenem Stadium der Ermittlung, das in der Hauptsache noch aus Sammeln von Informationen und Beweismaterial bestand.
»Was ist mit denen, die bis vor kurzem hier gearbeitet haben oder schon vor einiger Zeit hier aufgehört haben, die kannten den Weihnachtsmann doch auch?«, fragte Sigurður Óli. Er setzte sich zu Erlendur in den Speisesaal und sah zu, wie der sich genüsslich Hering und dunkles Roggenbrot, gekochten Schinken, Toastbrot und dampfenden Kaffee einverleibte.
»Wir sehen erst mal, was jetzt beim ersten Anlauf herauskommt«, erwiderte Erlendur und schlürfte den heißen Kaffee. »Hast du etwas über diesen Guðlaugur herausgefunden?«
»Nicht viel. Über ihn scheint es nicht viel zu sagen zu geben. Er war achtundvierzig Jahre alt, unverheiratet und kinderlos. Hat über zwanzig Jahre hier im Hotel gearbeitet.
Es sieht so aus, als hätte er die ganzen Jahre da unten in dem Kellerloch gewohnt. Seinerzeit sollte das wohl nur eine Übergangslösung sein, so sagt jedenfalls der fette Hotelmanager, aber er behauptet, auch nicht viel mehr darüber zu wissen. Er hat mir geraten, mit seinem Vorgänger zu sprechen, der hat nämlich seinerzeit den Deal mit Guðlaugur gemacht. Fettkloß war der Meinung, dass Guðlaugur damals die Wohnung gekündigt worden war und er die Erlaubnis erhielt, sein Zeugs hier im Keller aufzubewahren. Und das hat dann einfach dazu geführt, dass er dort hängen geblieben ist.«
Sigurður Óli schwieg eine Weile.
»Elinborg hat mir gesagt, dass du hier im Hotel übernachtet hast.«
»Kaum zu empfehlen. Das Zimmer ist kalt, und man hat keine Ruhe vor dem Personal. Aber das Essen ist gut. Wo ist Elinborg?«
Im Frühstücksraum war Betrieb, und der Saal summte unter den lebhaften Gesprächen der Gäste, die sich am Frühstücksbüfett bedienten. Die meisten waren Ausländer in Wollpullovern und Bergschuhen. Sie waren dick vermummt, obwohl sie eigentlich nur ins Stadtzentrum wollten, das gerade mal zehn Minuten entfernt war. Kellner sorgten dafür, dass die Kaffeetassen nicht leer wurden, und räumten gebrauchte Teller ab. Aus der Lautsprecheranlage klangen getragene Weihnachtslieder.
»Die Hauptverhandlung ist heute, das weißt du doch«, sagte Sigurður Óli.
»Ja.«
»Elínborg ist dort. Was glaubst du, wie das ausgehen wird?«
»Wahrscheinlich kriegt er ein paar Monate auf Bewährung. Wie immer bei diesen miesen Richtern.«
»Er wird doch wohl kaum den Jungen behalten dürfen.«
»Ich weiß es nicht«, sagte Erlendur.
»Was für ein Dreckskerl«, sagte Sigurður Óli. »Er gehörte auf dem Lækjartorg an den Pranger gestellt.«
Elinborg hatte die Ermittlung geleitet. Ein acht Jahre alter Junge war mit schweren Körperverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Aus ihm war nichts herauszuholen gewesen, was den Tathergang betraf. Man ging zunächst davon aus, dass ältere Schulkameraden außerhalb des Schulgeländes über ihn hergefallen waren und ihn so zugerichtet hatten; ein Arm war gebrochen, die Kiefer waren angeknackst und zwei Zähne im Oberkiefer fehlten.
Sein Vater kam kurz darauf aus der Arbeit nach Hause und verständigte die Polizei. Ein Krankenwagen lieferte den Jungen ins Krankenhaus ein.
Der Junge war ein Einzelkind. Seine Mutter befand sich in der psychiatrischen Klinik, als der Überfall stattfand.
Er lebte allein mit seinem Vater in einem schönen, zweistöckigen Haus mit fantastischer Aussicht im Stadtviertel Breiðholt. Der Vater, geschäftsführender Direktor einer Internet-Firma, war erwartungsgemäß erschüttert über diesen Überfall und sprach davon, sich an den Jungen rächen zu wollen, die seinen Sohn so zugerichtet hatten.
Er verlangte, dass Elínborg die Täter ausfindig machen müsse.
Elinborg wäre vermutlich der Wahrheit nie auf die Spur gekommen, wenn das Haus nicht zwei Etagen gehabt hätte und das Zimmer des Jungen in der oberen gewesen wäre.
»Sie nimmt sich das viel zu sehr zu Herzen«, sagte Sigurður Óli. »Elinborg hat natürlich selber einen Sohn in diesem Alter.«
»Man darf sich nicht zu sehr von so was beeinflussen lassen«, antwortete Erlendur, der mit seinen Gedanken weit weg war.
»Und das sagst ausgerechnet du?«
Die friedliche Stimmung im Frühstücksraum wurde plötzlich durch Lärm, der aus der Küche herausdrang, gestört.
Ein Mann schimpfte lautstark und stritt sich mit jemandem, man konnte jedoch nicht hören, über was. Erlendur und Sigurður Óli standen auf und gingen Richtung Küche.
Die Stimme gehörte dem Chefkoch, der Erlendur mit der Rinderzunge ertappt hatte. Er ließ seinen Zorn an der Laborantin aus, die ihm eine Speichelprobe entnehmen wollte.
»… und jetzt zieh endlich ab mit deinen Scheißpinnchen«, schrie der Koch eine Frau um die fünfzig an. Ihr Handwerkszeug stand auf dem Tisch. Trotz seines Wutanfalls blieb sie höflich, aber bestimmt, und das trug nicht dazu bei, seinen Zorn zu mildern. Als er Erlendur und Sigurður Óli erblickte, geriet sein Blut noch mehr in Wallung.
»Seid ihr wahnsinnig geworden?«, schrie er. »Glaubt ihr wirklich, ich wäre unten bei Gulli gewesen und hätte ihm einen Präser über den Schwanz gezogen? Ihr tickt wohl nicht ganz frisch, ihr Saftärsche. Das hier kommt überhaupt nicht infrage, das kommt überhaupt nicht infrage.
Mir ist scheißegal, was ihr dazu sagt. Ihr könnt mich meinetwegen in eine Zelle stecken und den Schlüssel wegschmeißen, aber ich mach bei so einem Scheiß nicht mit, habt ihr das kapiert, ihr Idioten?«
Wutschnaubend stürmte er aus der Küche. Er fühlte sich in seiner Männlichkeit angegriffen, die allerdings durch die Kochmütze etwas beeinträchtigt wurde, und Erlendur musste unwillkürlich lächeln. Er schaute die Laborantin an, die das Lächeln erwiderte und dann anfing zu lachen.
Die Spannung in der Küche löste sich. Köche und Kellner, die sich in der Küche versammelt hatten, brachen in schallendes Gelächter aus.
»Sind die anderen auch so schwierig?«, fragte Erlendur die Laborantin.
»Nein, überhaupt nicht«, erwiderte sie. »Eigentlich zeigen alle großes Verständnis. Er war der Erste, der das unter seiner Würde fand.«
Sie lächelte, und Erlendur mochte ihr Lächeln. Sie war etwa so groß wie er selbst, hatte dichtes blondes Haar, das sie kurz geschnitten trug, und hatte eine bunte Strickjacke an mit einer weißen Bluse darunter, dazu Jeans und solide schwarze Lederschuhe.
»Mein Name ist Erlendur«, rutschte es unwillkürlich aus ihm heraus, und er streckte ihr die Hand hin.
Читать дальше