»Er könnte mit Bleistift geschrieben haben«, warf Parker ein.
»Stimmt auch wieder, alter Spaßverderber. Gut, aber dann muß er das Blatt in die Tasche gesteckt haben, als Gerald hereinkam, denn hier liegt es nicht; das hat er aber auch nicht, denn bei seiner Leiche wurde es nicht gefunden; folglich hat er nicht geschrieben.«
»Oder er hat das Blatt woanders weggeworfen«, sagte Parker. »Ich habe nämlich noch nicht das ganze Gelände abgesucht, und selbst wenn wir ganz knapp rechnen - indem wir nämlich davon ausgehen, daß der Schuß, den Hardraw um zehn vor zwölf gehört hat, der Schuß war -, haben wir eineinhalb Stunden, über die wir nichts wissen.«
»Nun gut. Sagen wir also, nichts weist hier darauf hin, daß er geschrieben hat. Recht so? Gut, dann -«
Lord Peter nahm eine Lupe aus der Tasche und untersuchte sorgfältig die ganze Sitzfläche des Sessels, bevor er sich hinsetzte.
»Hier ist auch nichts, was uns weiterhilft«, sagte er. »Um weiterzukommen: Cathcart hat also hier gesessen, wo ich jetzt sitze. Geschrieben hat er nicht; er - sag mal, bist du sicher, daß in dem Zimmer nichts angerührt wurde?«
»Ganz sicher.«
»Dann hat er auch nicht geraucht.«
»Wieso nicht? Er könnte den Zigarren- oder Zigarettenstummel ins Feuer geworfen haben, als Denver hereinkam.«
»Keine Zigarette«, sagte Peter, »sonst müßten wir irgendwo Spuren finden - auf dem Fußboden oder im Kamin. Diese leichte Asche fliegt ja nur so herum. Aber eine Zigarre - ja, die könnte er vielleicht geraucht haben, ohne Spuren zu hinterlassen. Ich will's aber nicht hoffen.«
»Wieso?«
»Weil ich es lieber sähe, wenn Geralds Behauptungen einen kleinen Wahrheitsgehalt hätten. Ein aufgeregter Mensch setzt sich nicht gemütlich hin, um vor dem Zubettgehen noch eine Zigarre zu genießen, und geht dabei auch noch so liebevoll sorgsam mit der Asche um. Wenn andrerseits aber Freddy recht hat und Cathcart ausgesprochen gutgelaunt und mit sich und der Welt zufrieden war, hat er wahrscheinlich genau das getan.«
»Glaubst du etwa, daß Mr. Arbuthnot das alles erfunden hat?« fragte Parker nachdenklich. »Den Eindruck macht er eigentlich nicht auf mich. Um so etwas zu erfinden, brauchte er eine gehörige Portion Phantasie und Bosheit, und beides traue ich ihm nicht zu.«
»Ich weiß«, sagte Lord Peter. »Ich kenne Freddy mein Leben lang und weiß, daß er keiner Fliege was zuleide tun könnte. Außerdem hat er gar nicht soviel Grips, um sich jemals etwas auszudenken. Mich beunruhigt nur, daß Gerald eben auch nicht den Grips hat, um diese Komödie zwischen ihm und Cathcart zu erfinden.«
»Andrerseits«, wandte Parker ein, »wenn wir für einen Augenblick unterstellen, daß er Cathcart doch erschossen hat, wäre das ein starker Ansporn für ihn gewesen, sie zu erfinden. Er würde alles daransetzen, seinen Kopf aus der - ich meine, wenn etwas Wichtiges auf dem Spiel steht, kann man sich oft nur wundern, wie sehr das die Sinne schärft. Und daß die Geschichte so weit hergeholt ist, spricht für einen ungeübten Märchenerzähler.«
»Wie wahr, mein König! Nun, bisher hast du mir einen Strich durch alle meine Erkenntnisse gemacht. Tut aber nichts. Mein Haupt ist blutig, doch ungebeugt. Cathcart hat also hier gesessen -«
»Das sagt dein Bruder.«
»Hol dich der Kuckuck, ich sage, er hat hier gesessen; irgendwer hat hier jedenfalls gesessen; er hat seine vier Buchstaben deutlich ins Kissen gedrückt.«
»Das könnte schon tagsüber gewesen sein.«
»Ach was. Am Tag waren sie alle draußen. Du brauchst dein Sadduzäertum auch wieder nicht zu übertreiben, Charles. Ich sage, Cathcart hat hier gesessen und - hallo, hallo!«
Er bückte sich und starrte in den Kamin.
»Das ist ja verbranntes Papier, Charles.«
»Ich weiß. Das hat mich gestern auch schon sehr interessiert, bis ich merkte, daß es in ein paar anderen Zimmern genauso war. Man läßt hier oft das Feuer in den Zimmern ausgehen, wenn tagsüber alle draußen sind, und zündet es dann eine Stunde vor dem Abendessen wieder an. Hier sind nämlich an Personal nur die Köchin, das Hausmädchen und Fleming, und die haben bei so einer großen Gesellschaft allerhand zu tun.«
Lord Peter klaubte die verkohlten Reste zusammen.
»Ich finde nichts, was deiner Vermutung widerspricht«, meinte er traurig, »und dieses Stückchen Morning Post hier bestätigt sie sogar eher. Dann können wir also nur annehmen, daß Cathcart hier gedankenverloren gesessen und gar nichts getan hat. Ich fürchte, das bringt uns nicht viel weiter.« Er stand auf und ging zur Kommode.
»Diese Schildpattgarnitur gefällt mir«, sagte er, »und das Parfüm - Baiser du soir - auch ganz nett. Kannte ich noch nicht. Muß Bunter mal darauf aufmerksam machen. Ein bezauberndes Maniküretui, nicht? Weißt du, ich liebe es ja auch, sauber und adrett zu sein und so, aber Cathcart gehörte zu denen, die einem immer ein bißchen zu gepflegt vorkamen. Armer Teufel! Und jetzt wird er in Golders Green begraben. Ich hab ihn eigentlich nur ein-, zweimal gesehen. Auf mich hat er immer gewirkt wie einer, der schon alles kennt. Ich hab mich ziemlich gewundert, daß Mary etwas an ihm fand, aber ich kenne meine Schwester ja wirklich furchtbar wenig. Sie ist fünf Jahre jünger als ich. Als der Krieg ausbrach, war sie gerade aus der Schule gekommen und nach Paris gegangen. Ich ging zum Militär, und sie kam wieder nach Hause und machte sich in der Krankenpflege und Sozialarbeit nützlich. Dadurch habe ich sie nur hin und wieder mal gesehen. Damals war sie auch ganz besessen von neuen Ideen, die Welt zu verbessern, und hatte nichts mit mir zu reden. Und schließlich ist sie noch an so einen Pazifisten geraten, der wohl ein ziemlich falscher Fuffziger war. Ich selbst wurde krank, wie du weißt, und nachdem mir auch noch Barbara den Laufpaß gegeben hatte, waren die Herzensangelegenheiten meiner Mitmenschen mir ziemlich schnuppe. Dann habe ich bei der Aufklärung des Attenbury-Diamanten-Diebstahls mitgemischt - und das Ergebnis ist, daß ich meine eigene Schwester kaum kenne. Aber ihr Geschmack in bezug auf Männer scheint sich geändert zu haben. Meine Mutter sagte, Cathcart habe Charme; das heißt, daß er auf Frauen wirkte. Als Mann kann man das ja von einem anderen nie sagen, aber Mutter hat meist recht. Was ist aus seinen Papieren geworden?«
»Er hatte hier kaum welche«, antwortete Parker. »Ein Scheckheft von der Cox-Filiale am Charing Cross, aber verhältnismäßig neu und nicht sehr aufschlußreich. Anscheinend hatte er dort nur ein kleines Konto für seine Englandaufenthalte. Die meisten Schecks sind auf ihn selbst ausgestellt, und dann und wann hat er eine Hotel- oder Schneiderrechnung bezahlt.«
»Hatte er kein Bankbuch?«
»Ich glaube, seine wichtigen Papiere sind alle in Paris. Er hat dort eine Wohnung, irgendwo unweit der Seine. Wir stehen mit der Pariser Polizei in Verbindung. Dann hatte er noch ein Zimmer in Albany. Ich habe angeordnet, daß es versiegelt wird, bis ich hinkomme. Morgen wollte ich hinfahren.«
»Das wird am besten sein. Brieftasche?«
»Ja, hier. Etwa dreißig Pfund in verschiedenen Scheinen, die Karte eines Weinhändlers und eine Rechnung für eine Reithose.«
»Keine Korrespondenz?«
»Nicht eine Zeile.«
»Nein«, meinte Wimsey, »ich glaube, er war so einer, der keine Briefe aufhob. Viel zu ausgeprägter Selb sterhaltungstrieb.«
»Stimmt. Ich habe sogar schon die Dienstboten nach seiner Korrespondenz gefragt. Sie sagen, er hat ziemlich viele Briefe bekommen, aber nie einen herumliegen lassen. Was er an Briefen geschrieben hat, konnten sie mir nicht sagen, weil alle ausgehende Post in den Postsack geworfen wird, der so, wie er ist, zur Post gebracht und erst dort geöffnet wird, oder man gibt ihn dem Briefträger mit, wenn er sich mal hier sehen läßt. Im allgemeinen bestand der Eindruck, daß er nicht viel schrieb. Das Hausmädchen sagt, sie hat in seinem Papierkorb nie etwas gefunden, was der Rede wert war.«
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