»Sonst nirgendwo«, sagte Mr. Audley mit tiefer Baßstimme, wandte sich dem Sprecher zu und nickte mehrmals mit seinem ehrwürdigen Haupt. »Bestimmt nirgendwo, außer hier. Man hat mir einzureden versucht, daß im Café Anglais…«
Hier wurde er durch das Abräumen seines Tellers unterbrochen und sogar für einen Moment verwirrt, aber er fand den wertvollen Faden seiner Gedanken wieder. »Man hat mir einzureden versucht, daß im Café Anglais das gleiche erreicht würde. Nichts davon, Sir«, sagte er und schüttelte sein Haupt erbarmungslos wie ein Richter, der zum Galgen verurteilt. »Nichts davon.«
»Überschätzter Laden das«, sagte ein gewisser Oberst Pound, der (seiner Miene nach) zum ersten Mal seit einigen Monaten wieder sprach.
»Oh, ich weiß nicht«, sagte der Herzog von Chester, der ein Optimist war, »es ist ganz nett für bestimmte Dinge. Nicht zu überbieten in…«
Ein Kellner kam eilig durch den Raum und blieb dann plötzlich stehen. Sein Innehalten war so lautlos wie sein Schritt; aber all jene unbestimmten und freundlichen Gentlemen waren so an die absolute Geschmeidigkeit der unsichtbaren Maschinerie gewöhnt, die ihr Leben umgab und erhielt, daß ein Kellner, der etwas Unerwartetes tat, erschreckte wie ein Mißton. Sie fühlten, wie Sie und ich fühlen würden, wenn die unbelebte Welt nicht gehorchte – wenn ein Stuhl vor uns wegrennte.
Der Kellner stand einige Augenblicke starrend, während sich auf jedem Gesicht an der Tafel eine sonderbare Scham vertiefte, die vollständig ein Produkt unserer Zeit ist. Es ist die Mischung der modernen Humanitätsduselei mit dem schrecklichen modernen Abgrund zwischen den Seelen der Reichen und der Armen. Ein echter historischer Aristokrat hätte Dinge nach dem Kellner geworfen, zuerst leere Flaschen und zuletzt sehr wahrscheinlich Geld. Ein echter Demokrat hätte ihn mit kameradschaftlicher Klarheit der Sprache gefragt, was zum Teufel er wolle. Aber diese modernen Plutokraten können keinen Armen in ihrer Nähe ertragen, weder als Sklaven noch als Freund. Daß irgend etwas bei den Bedienern schief lief, bedeutete lediglich eine peinliche Verlegenheit. Sie wollten nicht brutal sein, aber sie fürchteten die Notwendigkeit, gütig zu sein. Sie wünschten, daß was immer es war, vorbei sei. Es war vorbei. Der Kellner wandte sich, nachdem er einige Sekunden steif wie ein Kataleptiker dagestanden hatte, um und rannte wie wahnsinnig aus dem Raum.
Als er wieder im Raum erschien, oder besser im Eingang, geschah das in Gesellschaft eines weiteren Kellners, mit dem er flüsterte und in südlicher Wildheit gestikulierte. Dann verschwand der erste Kellner, ließ den zweiten Kellner zurück und erschien wieder mit einem dritten Kellner. Als sich ein vierter Kellner dieser hastigen Synode angeschlossen hatte, hielt Mr. Audley es für notwendig, das Schweigen zugunsten von Takt zu brechen. Er verwendete dazu ein sehr lautes Husten anstelle des Präsidentenhämmerchens und sagte: »Hervorragende Arbeit, die der junge Moocher in Burma tut. Nein, kein anderes Volk auf Erden könnte…«
Ein fünfter Kellner war wie ein Pfeil auf ihn losgeschossen und flüsterte ihm ins Ohr: »Um Vergebung. Wichtig! Dürfte der Besitzer Sie wohl sprechen?«
Der Präsident dreht sich verwirrt um und sah mit betäubtem Starren Mr. Lever sich rasch auf sie zuwälzen. Die Haltung des braven Besitzers war zwar seine gewöhnliche Haltung, aber sein Gesicht war keineswegs gewöhnlich. Im allgemeinen war es ein frisches Kupferbraun; jetzt war es ein kränkliches Gelb.
»Vergeben Sie mir, Mr. Audley«, sagte er mit asthmatischer Atemlosigkeit. »Ich habe erhebliche Befürchtungen. Ihre Fischteller, sie sind mit Messer und Gabel auf ihnen abgeräumt worden!«
»Na, das will ich hoffen«, sagte der Präsident mit einiger Wärme.
»Haben Sie ihn gesehen?« keuchte der aufgeregte Hotelier. »Haben Sie den Kellner gesehen, der sie abräumte? Kennen Sie ihn?«
»Den Kellner kennen?« fragte Mr. Audley empört. »Natürlich nicht!«
Mr. Lever öffnete die Hände in einer Geste der Agonie. »Ich hab ihn nie geschickt«, sagte er. »Ich weiß nich wann und warum er kommt. Ich schick meinen Kellner die Teller abräumen, und er findet sie bereits fort.«
Mr. Audley sah immer noch so verwirrt aus, daß er nicht wirklich der Mann sein konnte, den das Empire braucht; niemand von der Gesellschaft konnte etwas sagen, außer dem Mann aus Holz – Oberst Pound –, der zu unnatürlichem Leben galvanisiert schien. Er stand steif von seinem Stuhl auf, hinterließ die übrigen sitzend, schraubte sich das Monokel ins Auge und sprach mit einem rauhen Unterton, als habe er halb vergessen, wie man spricht. »Wollen Sie sagen, daß jemand unser silbernes Fischbesteck gestohlen hat?«
Der Besitzer wiederholte die offenhändige Geste mit noch größerer Hilflosigkeit; und blitzartig standen alle Männer am Tisch auf den Füßen.
»Sind alle Ihre Kellner da?« fragte der Oberst in seinem leisen rauhen Tonfall.
»Ja, sie sind alle da. Ich habe das selbst bemerkt«, rief der junge Herzog und schob sein knäbisches Gesicht in den inneren Kreis. »Zähle sie immer, wenn ich reinkomme; sie sehen so komisch aus, wenn sie da an der Wand stehen.«
»Aber man kann sich sicherlich nicht genau erinnern«, begann Mr. Audley mit schwerem Zögern.
»Ich erinnere mich genau, sage ich Ihnen«, rief der Herzog aufgeregt. »Hier hat es nie mehr als 15 Kellner gegeben, und hier waren heute Abend nicht mehr als 15 Kellner, das schwöre ich; nicht mehr und nicht weniger.«
Der Besitzer wandte sich ihm zu und zitterte vor Überraschung fast wie vom Schlag gerührt. »Sie meinen – Sie meinen«, stammelte er, »daß Sie alle meine 15 Kellner gesehen?«
»Wie üblich«, bestätigte der Herzog. »Was ist denn los?«
»Nichts«, sagte Lever, und sein Akzent wurde dicker, »nur, Sie haben nicht. Denn einer von se liegt oben tot.«
Für einen Augenblick herrschte erschrockenes Schweigen in jenem Raum. Vielleicht (so übernatürlich ist das Wort Tod) betrachtete jeder dieser unnützen Männer für eine Sekunde seine Seele und sah sie als kleine getrocknete Erbse. Einer von ihnen – der Herzog, glaube ich – fragte sogar mit der blödsinnigen Freundlichkeit des Reichtums: »Können wir irgendwas tun?«
»Er hat einen Priester gehabt«, sagte der Jude nicht ohne Rührung.
Da erwachten sie, wie vom Dröhnen des Jüngsten Gerichts, zu ihrer eigenen Position. Für einige unheimliche Sekunden war ihnen wirklich so gewesen, als ob der fünfzehnte Kellner der Geist des toten Mannes oben gewesen sei. Dieser Druck hatte sie stumm gemacht, denn Geister waren für sie eine Peinlichkeit wie Bettler. Doch die Erinnerung an das Silber brach den Bann des Übernatürlichen; brach ihn jäh und mit brutaler Wirkung. Der Oberst warf seinen Stuhl um und schritt zur Tür. »Wenn ein fünfzehnter Mann hier war, Freunde«, sagte er, »war dieser fünfzehnte der Dieb. Also sofort runter an die Vorder- und die Hintertüren und sichert alles ab; danach wollen wir uns beraten. Die 24 Perlen sind die Rückeroberung wert.«
Mr. Audley schien zunächst zu zögern, ob es eines Gentlemans würdig sei, wegen überhaupt irgend etwas in eine solche Hast zu geraten; doch als er den Herzog mit jugendlicher Energie die Treppe hinabstürzen sah, folgte er ihm in gesetzterer Geschwindigkeit.
In diesem Augenblick rannte ein sechster Kellner in den Raum und erklärte, daß er den Stapel Fischteller auf einem Anrichtetisch gefunden habe, doch keine Spur des Silbers.
Der Haufen von Speisenden und Aufwärtern, der holterdipolter durch die Gänge stolperte, teilte sich in zwei Gruppen. Die meisten der Fischer folgten dem Besitzer zur Eingangshalle, um zu erfahren, ob irgend jemand das Haus verlassen habe. Oberst Pound stürmte mit dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten und ein oder zwei anderen durch den Korridor in Richtung Personalräume als wahrscheinlichere Fluchtroute. Dabei kamen sie an der dunklen Nische oder Höhle der Garderobe vorbei und erblickten dort eine kleine schwarzgekleidete Gestalt, offenbar einen Bediensteten, der etwas zurück in ihrem Schatten stand.
Читать дальше