Es war ein sehr eleganter Mann in einfachem Abendanzug; großgewachsen, aber er wirkte, als nehme er nicht viel Raum ein; man spürte, daß er wie ein Schatten dort hätte vorübergleiten können, wo sehr viel kleinere Männer auffällig und störend gewirkt hätten. Sein Gesicht, jetzt im Lampenschein zurückgeworfen, war dunkel und lebhaft, das Gesicht eines Ausländers. Seine Erscheinung war gut, seine Manieren waren gut gelaunt und selbstbewußt; ein Kritiker hätte lediglich feststellen können, daß sein schwarzer Frack nicht ganz zu seiner Erscheinung und seinen Manieren paßte, ja sogar auf sonderbare Weise geschwollen und gebauscht erschien. In dem Augenblick, da er Browns schwarze Silhouette vor dem Sonnenuntergang erblickte, warf er ein Stück Papier mit einer Nummer darauf hin und rief mit leutseliger Autorität: »Ich möchte meinen Hut und meinen Mantel bitte; ich muß sofort gehen.«
Father Brown nahm wortlos das Papier und ging gehorsam den Mantel suchen; es war nicht die erste niedere Arbeit, die er in seinem Leben verrichtete. Er brachte ihn herbei und legte ihn auf die Theke; inzwischen sagte der fremde Herr, der in seiner Westentasche herumgesucht hatte, lachend: »Ich hab kein Silber bei mir; behalten Sie das«, und er warf einen halben Sovereign hin und nahm seinen Mantel auf.
Father Browns Gestalt blieb ganz dunkel und ruhig; aber in diesem Augenblick hatte er seinen Kopf verloren. Sein Kopf war immer dann am wertvollsten, wenn er ihn verloren hatte. In solchen Augenblicken zählte er zwei und zwei zusammen und machte vier Millionen daraus. Oftmals billigte die katholische Kirche (die mit der Alltagsvernunft verheiratet ist) das nicht. Oftmals billigte er selbst das nicht. Aber es war eine wirkliche Eingebung – wichtig in seltenen Krisen –, daß wer da seinen Kopf verliert, ihn retten wird.
»Ich glaube, Sir«, sagte er höflich, »daß Sie einiges Silber in Ihren Taschen haben.«
Der hochgewachsene Gentleman starrte ihn an. »Zum Teufel«, schrie er, »ich habe Ihnen doch Gold gegeben, was beklagen Sie sich denn?«
»Weil Silber manchmal wertvoller ist als Gold«, sagte der Priester sanftmütig; »vor allem in großen Mengen.«
Der Fremde sah ihn neugierig an. Danach sah er noch neugieriger den Gang hinab zum Haupteingang hin. Dann sah er wieder Brown an, und dann sah er sehr sorgfältig nach dem Fenster hinter Browns Haupt, das immer noch vom Nachglühen des Gewitters gefärbt war. Dann schien er einen Entschluß gefaßt zu haben. Er stützte eine Hand auf die Theke, schwang sich leicht wie ein Akrobat hinüber und stand dann dräuend über dem Priester, den er mit mächtiger Hand beim Kragen packte.
»Stehen Sie still«, sagte er in einem abgehackten Flüstern. »Ich will Ihnen nicht drohen, aber…«
»Ich will Ihnen drohen«, sagte Father Brown mit einer Stimme wie eine dröhnende Trommel. »Ich will Ihnen drohen mit dem Wurm, der niemals stirbt, und mit dem Feuer, das nie gelöscht wird.«
»Sie sind eine sonderbare Art von Garderobier«, sagte der andere.
»Ich bin Priester, Monsieur Flambeau«, sagte Brown, »und ich bin bereit, Ihre Beichte zu hören.«
Der andere stand einige Augenblicke da, nach Luft schnappend, dann taumelte er rückwärts auf einen Stuhl.
Die beiden ersten Gänge des Dinners der »zwölf wahren Fischer« waren mit ruhigem Erfolg verlaufen. Ich besitze keine Abschrift der Speisekarte; und wenn ich eine besäße, würde ich niemandem davon etwas mitteilen. Sie war in jener Sorte Über-Französisch verfaßt, das Köche gebrauchen und Franzosen nicht verstehen. Es gab eine Tradition im Club, daß die hors d’œuvres unterschiedlich und vielfältig zu sein hatten bis zum Exzeß. Sie wurden höchst ernsthaft verspeist, da sie zugegebenermaßen überflüssige Zugaben darstellten wie das ganze Essen und der ganze Club. Es gab auch eine Tradition, daß die Suppe leicht und anspruchslos zu sein hatte – eine Art einfachen und strengen Fastens vor dem Fest des Fisches, das bevorstand. Das Gespräch war jenes sonderbare seichte Gerede, das das British Empire regiert, das es im Geheimen regiert und das doch einen gewöhnlichen Engländer kaum erleuchten würde, selbst wenn er ihm zuhören könnte. Kabinettsminister beider Parteien erwähnte man in einer Art gelangweilten Wohlwollens mit ihren Vornamen. Der radikale Schatzkanzler, den die ganze Partei der Tories angeblich wegen seiner Erpressungen verflucht, wurde wegen seiner unbedeutenden Gedichte oder wegen seines guten Sitzes im Sattel während der Jagd gelobt. Der Tory-Führer, den alle Liberalen angeblich als Tyrannen hassen, wurde durchgehechelt und im großen ganzen gelobt – als Liberaler. Irgendwie schien es, als seien Politiker sehr wichtig. Jedoch schien alles andere wichtig zu sein an ihnen, außer ihrer Politik. Mr. Audley, der Präsident, war ein liebenswürdiger älterer Herr, der immer noch Gladstone-Kragen trug; er war eine Art Symbol jener gauklerischen und doch so starren Gesellschaft. Er hatte niemals irgend etwas getan – nicht einmal etwas Falsches. Er war nicht leichtlebig; er war nicht einmal besonders reich. Er gehörte einfach dazu; und das war alles. Keine Partei konnte ihn übersehen, und hätte er ins Kabinett gewollt, würde man ihn sicherlich aufgenommen haben. Der Herzog von Chester, der Vizepräsident, war ein junger aufsteigender Politiker. Das heißt, er war ein gefälliger Jüngling mit glattem blondem Haar und einem sommersprossigen Gesicht, mit mäßiger Intelligenz und ungeheuren Ländereien. In der Öffentlichkeit waren seine Auftritte immer erfolgreich, und zwar auf die einfachste Weise. Wann immer ihm ein Witz einfiel, machte er ihn, und wurde brillant genannt. Wann immer ihm kein Witz einfiel, sagte er, jetzt sei nicht die Zeit zu scherzen, und wurde fähig genannt. Im Privaten, in einem Club seiner Klasse, war er einfach recht angenehm offen und albern wie ein Schuljunge. Mr. Audley, der sich nie mit Politik beschäftigt hatte, behandelte sie etwas ernsthafter. Manchmal verwirrte er die Gesellschaft sogar mit Sätzen, die andeuteten, daß es zwischen Liberalen und Konservativen gewisse Unterschiede gebe. Er selbst war ein Konservativer, sogar im Privatleben. Ihm hing eine graue Haartolle rücklings über seinen Kragen wie gewissen älteren Staatsmännern, und von hinten sah er aus wie der Mann, den das Empire braucht. Von vorne sah er aus wie ein sanfter, selbstgefälliger Junggeselle mit einer Wohnung im Hotel Albany – was er war.
Wie bereits bemerkt wurde, gab es 24 Sitze am Terrassentisch, aber nur 12 Mitglieder des Clubs. So konnten sie denn die Terrasse auf die luxuriöseste Weise besetzt halten, indem sie entlang der inneren Tischseite saßen, ohne Gegenüber, und so einen ungestörten Blick auf den Garten hatten, dessen Farben immer noch leuchteten, obwohl der Abend sich für die Jahreszeit etwas zu düster um sie schloß. Der Präsident saß in der Mitte der Reihe, und der Vizepräsident an ihrem rechten Ende. Wenn die 12 Gäste zu ihren Plätzen schritten, war es (aus irgendwelchen unbekannten Gründen) üblich, daß die Kellner an der Wand Parade standen wie Truppen, die dem König ihre Waffen präsentieren, während der fette Besitzer dastand und sich vor dem Club in strahlender Überraschung verneigte, als ob er nie zuvor von ihnen gehört hätte. Aber noch vor dem ersten Klirren von Messer und Gabel war diese Vasallenarmee verschwunden, und nur jene ein oder zwei, die man zum Einsammeln und Austeilen der Teller benötigte, schossen in tödlichem Schweigen umher. Mr. Lever, der Besitzer, war natürlich längst zuvor unter Höflichkeitskrämpfen verschwunden. Es wäre übertrieben, ja geradezu unehrerbietig zu behaupten, daß er je wieder wirklich erschien. Wenn aber der wichtige Gang, der Fischgang, hereingebracht wurde, gab es – wie soll ich es beschreiben – einen lebendigen Schatten, die Projektion seiner Persönlichkeit, die mitteilte, daß er in der Nähe weilte. Der heilige Fischgang bestand (für die Augen des Plebs) aus einer Art monströsem Pudding, etwa von der Größe und Form eines Hochzeitskuchens, in dem eine beträchtliche Anzahl interessanter Fische letztlich die Formen verloren hatten, die ihnen Gott einst gab. »Die zwölf wahren Fischer« erhoben ihre Fischmesser und Fischgabeln und gingen ihn so ernsthaft an, als ob jeder Zoll Pudding so viel koste wie die Silbergabel, von der er gegessen ward. Was meines Wissens auch zutraf. Dieser Gang wurde in eifrigem und verschlingendem Schweigen erledigt; und erst als sein Teller fast leer war, machte der junge Herzog die rituelle Bemerkung: »Den können sie wirklich nur hier machen.«
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