Die Bibliothek war lang, niedrig und dunkel; was an Licht hereinkam, drängte sich unter den herabgelassenen Jalousien durch und hatte noch etwas von der rötlichen Färbung des Morgens. Valentin und sein Diener Iwan erwarteten sie am oberen Ende eines langen, leicht schrägstehenden Tisches, auf dem die sterblichen Überreste lagen, die im Zwielicht riesig aussahen. Die mächtige schwarze Gestalt und das gelbe Gesicht des Mannes, den man im Garten gefunden hatte, begegneten ihnen im wesentlichen unverändert. Der zweite Kopf, den man am gleichen Morgen aus dem Flußschilf gefischt hatte, lag triefend und tropfend daneben; Valentins Männer suchten immer noch nach dem Rest dieses zweiten Leichnams, von dem man annahm, daß er abgetrieben worden sei. Father Brown, der O’Briens Empfindlichkeit in keiner Weise zu teilen schien, trat an den zweiten Kopf heran und untersuchte ihn mit blinzelnder Sorgfalt. Es war kaum mehr als ein Büschel nassen, weißen Haares, im roten waagrechten Licht des Morgens von silbernem Feuer umrahmt; das Gesicht erschien von häßlichem, purpurnem und vielleicht verbrecherischem Typus und war offensichtlich heftig gegen Bäume oder Steine geschlagen, als es im Wasser herumschleuderte.
»Guten Morgen, Major O’Brien«, sagte Valentin mit ruhiger Herzlichkeit. »Ich nehme an, daß Sie schon von Braynes jüngstem Abschlacht-Experiment gehört haben?«
Father Brown stand immer noch über den Kopf mit dem weißen Haar gebeugt und sagte, ohne aufzuschauen:
»Ich nehme an, es ist völlig sicher, daß Brayne auch diesen Kopf abgeschnitten hat.«
»Na ja, das scheint logisch genug«, sagte Valentin, die Hände in den Taschen. »Auf die gleiche Weise getötet wie der andere. Aufgefunden wenige Meter vom anderen entfernt. Und abgeschnitten mit derselben Waffe, die er, wie wir wissen, mitgenommen hatte.«
»Ja, ja; ich weiß«, erwiderte Father Brown nachgiebig. »Dennoch bezweifle ich, wissen Sie, daß Brayne diesen Kopf hätte abschneiden können.«
»Warum denn nicht?« fragte Dr. Simon mit forschendem Blick.
»Nun, Doktor«, sagte der Priester und blickte blinzelnd auf, »kann ein Mann sich selbst den Kopf abschneiden? Ich weiß nicht.«
O’Brien spürte ein irrsinniges Universum um seine Ohren zusammenbrechen; der Doktor aber sprang mit praktischem Ungestüm herbei und schob die nassen weißen Haare zurück.
»Oh, da gibt es keinen Zweifel, das ist Brayne«, sagte der Priester ruhig. »Er hatte genau diese Einkerbung im linken Ohr.«
Der Detektiv, der den Priester mit steten und glitzernden Augen angesehen hatte, öffnete seinen zusammengepreßten Mund und sagte scharf: »Sie scheinen viel von ihm zu wissen, Father Brown.«
»So ist es«, sagte der kleine Mann einfach. »Ich kam seit einigen Wochen mit ihm zusammen. Er dachte daran, sich unserer Kirche anzuschließen.«
Das Glühen des Fanatismus schoß Valentin in die Augen; er schritt mit geballten Händen auf den Priester zu. »Und vielleicht«, schrie er mit schneidendem Hohn, »vielleicht dachte er auch daran, Ihrer Kirche all sein Geld zu vermachen.«
»Vielleicht«, sagte Brown gleichgültig; »möglich ist das.«
»In diesem Fall«, rief Valentin mit furchtbarem Lächeln, »dürften Sie wirklich eine Menge über ihn wissen. Über sein Leben und über sein…«
Major O’Brien legte eine Hand auf Valentins Arm. »Machen Sie Schluß mit diesem verleumderischen Quatsch, Valentin«, sagte er, »oder es könnte noch mehr Säbel geben.«
Aber Valentin hatte sich (unter dem steten bescheidenen Blick des Priesters) bereits wieder gefaßt. »Gut«, sagte er knapp, »persönliche Meinungen können warten. Sie, meine Herren, sind immer noch durch Ihr Versprechen gebunden, zu bleiben; Sie müssen sich selbst – und jeder den anderen dazu zwingen. Iwan wird Ihnen alles Weitere sagen, was Sie wissen wollen; ich muß mich an die Arbeit machen und den Behörden schreiben. Wir können das nicht länger geheimhalten. Ich schreibe in meinem Arbeitszimmer, für den Fall, daß es weitere Neuigkeiten gibt.«
»Gibt es weitere Neuigkeiten, Iwan?« fragte Dr. Simon, während der Chef der Polizei aus dem Raume schritt.
»Nur noch eine Sache, glaube ich, Sir«, sagte Iwan und legte sein graues altes Gesicht in Falten; »aber sie ist auf ihre Weise auch wichtig. Es handelt sich um den alten Knaben, den Sie auf dem Rasen gefunden haben«, und er wies ohne jede vorgespielte Ehrerbietung auf den großen schwarzen Körper mit dem gelben Kopf. »Wir haben rausgefunden, wer das ist.«
»Tatsächlich!« rief der verblüffte Doktor; »und wer ist es?«
»Sein Name war Arnold Becker«, sagte der Unterdetektiv, »obwohl er viele andere Namen führte. Er war eine Art wandernder Gauner, und man weiß, daß er in Amerika war; da dürfte Brayne wohl seinen Pick auf ihn bekommen haben. Wir selbst hatten mit ihm nicht viel zu schaffen, denn er arbeitete vorwiegend in Deutschland. Wir haben uns natürlich mit der deutschen Polizei ins Benehmen gesetzt. Aber da gab es, sonderbar genug, auch noch seinen Zwillingsbruder mit Namen Louis Becker, mit dem wir sehr viel zu tun hatten. Kurzum, wir haben es für nötig gehalten, ihn gestern erst guillotinieren zu lassen. Komische Sache, meine Herren, aber als ich den Kerl da flach auf dem Rasen liegen sah, hatte ich den größten Schock meines Lebens. Wenn ich nicht mit meinen eigenen Augen gesehen hätte, wie Louis Becker guillotiniert worden ist, hätte ich geschworen, daß Louis Becker da auf dem Rasen lag. Dann hab ich mich natürlich an seinen Zwillingsbruder in Deutschland erinnert, und als ich dem Faden nachging…«
Der erklärungsreiche Iwan hielt inne, und zwar aus dem ausgezeichneten Grund, weil ihm niemand mehr zuhörte. Der Major und der Doktor starrten beide Father Brown an, der steif aufrecht stand und sich die Hände an die Schläfen preßte wie ein Mann mit plötzlichen, starken Schmerzen.
»Halt, halt, halt!« rief er. »Hört einen Augenblick zu reden auf, denn ich sehe die Hälfte. Wird Gott mir Stärke geben? Wird mein Verstand den Sprung machen und alles sehen? Himmel hilf mir! Früher konnte ich ganz ordentlich denken. Ich konnte einmal jede Seite bei Thomas von Aquin paraphrasieren. Wird mein Kopf bersten – oder wird er erkennen? Ich sehe die Hälfte – ich sehe nur die Hälfte.«
Er vergrub seinen Kopf in den Händen und stand da in einer Art starrer Qual des Denkens oder Betens, während die anderen drei nichts anderes tun konnten, als auf dieses neueste Wunder ihrer 12 wilden Stunden zu starren.
Als Father Browns Hände herabsanken, ließen sie ein ganz neues und ernsthaftes Gesicht sehen, das Gesicht eines Rindes. Er stieß einen tiefen Seufzer aus und sagte: »Lassen Sie uns das so rasch wie möglich hinter uns bringen. Hören Sie zu, das wird der schnellste Weg sein, Sie alle von der Wahrheit zu überzeugen.« Er wandte sich an den Doktor. »Dr. Simon«, sagte er, »Sie haben einen scharfen Verstand, und heute morgen hörte ich Sie die 5 schwierigsten Fragen zu dieser Angelegenheit stellen. Alsdann, wenn Sie sie noch einmal fragen, werde ich sie beantworten.«
Simons Pincenez fiel ihm vor zweifelnder Verwunderung von der Nase, aber er antwortete sofort: »Nun ja, die 1. Frage, wissen Sie, ist, warum ein Mann einen anderen mit einem unhandlichen Säbel töten sollte, wenn man ihn doch mit einer Ahle töten könnte.«
»Ein Mann kann mit einer Ahle nicht geköpft werden«, sagte Brown ruhig, »und für diesen Mord war Köpfen absolut notwendig.«
»Warum?« fragte O’Brien interessiert.
»Und die nächste Frage?« fragte Father Brown.
»Also: Warum hat der Mann nicht geschrieen oder so?« fragte der Doktor. »Säbel in Gärten sind doch sicher ziemlich ungewöhnlich.«
»Zweige«, sagte der Priester düster und wandte sich dem Fenster zu, das auf die Todesszene hinausging. »Niemand hat die Sache mit den Zweigen begriffen. Warum sollten sie auf dem Rasen liegen – sehen Sie hin –, so weit von jedem Baum entfernt? Sie sind nicht abgebrochen worden; sie sind abgehauen worden. Der Mörder hat seinen Feind mit irgendwelchen Säbeltricks abgelenkt, hat ihm gezeigt, wie er einen Zweig in der Luft zerhauen kann, oder so was. Und dann, als sich der Feind niederbeugte, um sich das Ergebnis anzusehen, ein unhörbarer Streich, und der Kopf fiel.«
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