Wieder gab er geraume Zeit keine Antwort. Dann sagte er: »Entschuldige. Möchtest du ausgehen?«
»Ja«, erwiderte sie rasch, »ich möchte hinausgehen - mit dir! Hinaus in den Sonnenschein, hinaus ins Leben! Und mit dir zusammen leben!«
Er kauerte sich tiefer in den Sessel. In seinen Augen lag ein ruheloser, gehetzter Blick.
»Nadine, mein Schatz - müssen wir schon wieder davon anfangen?«
»Ja, das müssen wir. Lass uns fortgehen und irgendwo unser eigenes Leben führen.«
»Wie denn? Wir haben doch kein Geld.«
»Dann gehen wir eben arbeiten.«
»Wie denn? Was können wir denn? Ich habe nichts gelernt. Und es gibt Tausende von Arbeitslosen - qualifizierte Leute, gut ausgebildete Leute. Nein, wir würden es nie schaffen.«
»Dann verdiene ich eben für uns beide.«
»Mein liebes Kind, du hast ja nicht einmal deine Ausbildung abgeschlossen. Es ist hoffnungslos - und unmöglich.«
»Nein, hoffnungslos und unmöglich ist nur unser derzeitiges Leben.«
»Du weißt nicht, was du da redest. Mutter ist sehr gut zu uns. Sie gibt uns alles, was wir uns nur wünschen können.«
»Außer Freiheit. Lennox, gib dir einen Ruck! Lass uns weggehen - noch heute!«
»Du bist ja verrückt, Nadine.«
»Nein, ganz und gar nicht. Ich bin absolut bei klarem Verstand. Ich möchte mein eigenes Leben führen, mit dir, draußen im Sonnenschein - nicht erdrückt vom Schatten einer alten Frau, die ein Tyrann ist und der es Vergnügen bereitet, andere unglücklich zu machen.«
»Mutter mag ja etwas autoritär sein, aber - «
»Deine Mutter ist wahnsinnig! Sie ist geisteskrank! «
»Das ist nicht wahr«, sagte er ruhig. »Sie ist eine bemerkenswert tüchtige Geschäftsfrau. «
»Das ja - vielleicht.«
»Und dir muss auch klar sein, dass sie nicht ewig leben kann. Sie wird alt, und sie ist in schlechter körperlicher Verfassung. Nach ihrem Tod wird das Vermögen meines Vaters zu gleichen Teilen unter uns Kindern aufgeteilt. Sie hat uns das Testament selbst vorgelesen, wie du weißt.«
»Wenn sie stirbt«, sagte Nadine, »ist es vielleicht zu spät.«
»Zu spät wofür?«
»Zu spät, um glücklich zu werden.«
Lennox wiederholte leise: »Zu spät, um glücklich zu werden.«
Plötzlich erschauerte er. Nadine trat näher zu ihm und legte die Hand auf seine Schulter.
»Lennox, ich liebe dich. Hier geht es um einen Kampf zwischen deiner Mutter und mir. Auf wessen Seite stehst du - auf ihrer oder meiner?«
»Auf deiner! Auf deiner natürlich!«
»Dann tu, um was ich dich bitte.«
»Das kann ich nicht!«
»Doch, du kannst es. Überleg doch mal, Lennox, wir könnten Kinder haben.«
»Mutter möchte ja, dass wir Kinder haben. Sie hat es selbst gesagt.«
»Ich weiß, aber ich werde keine Kinder in die Welt setzen, die so aufwachsen müssen, wie ihr aufgewachsen seid. Euch kann eure Mutter beeinflussen, aber über mich hat sie keine Macht.«
Lennox sagte leise: »Du machst sie manchmal wütend. Das ist sehr unklug, Nadine.«
»Sie ist bloß wütend, weil sie weiß, dass sie keinen Einfluss auf mich hat und mir nicht vorschreiben kann, was ich zu denken habe!«
»Ich weiß ja, dass du immer höflich und freundlich zu ihr bist. Du bist wunderbar. Du bist zu gut für mich. Bist es immer gewesen. Als du sagtest, dass du mich heiraten würdest, konnte ich mein Glück kaum fassen.«
Nadine sagte leise: »Es war falsch von mir, dich zu heiraten.«
»Ja, es war falsch.« Lennox’ Stimme klang hoffnungslos.
»Du verstehst nicht, was ich meine. Ich will damit sagen, wenn ich damals fortgegangen wäre und dich gebeten hätte, mit mir zu kommen, dann hättest du es getan. Ja, ich glaube, du wärst mitgekommen. Aber ich war damals noch zu jung, um deine Mutter zu durchschauen und zu begreifen, worauf sie aus war.«
Sie hielt kurz inne und fuhr dann fort: »Du weigerst dich also, mit mir wegzugehen? Nun, ich kann dich nicht dazu zwingen. Aber mir steht es frei zu gehen! Und ich glaube - ich glaube, ich werde tatsächlich fortgehen.«
Lennox starrte sie ungläubig an. Zum ersten Mal antwortete er, ohne zu zögern, als hätte der träge Strom seiner Gedanken endlich schneller zu fließen begonnen. »Aber - aber - das kannst du nicht«, stammelte er. »Mutter - Mutter würde es nie zulassen.«
»Sie kann mich nicht daran hindern.«
»Aber du hast kein Geld.«
»Ich kann arbeiten, borgen, betteln oder stehlen. Versteh doch endlich, Lennox: Deine Mutter hat keine Macht über mich! Ich kann gehen oder bleiben, ganz wie es mir beliebt.
Und allmählich glaube ich, dass ich dieses Leben lange genug ertragen habe.«
»Nadine - verlass mich nicht! Bitte verlass mich nicht!«
Sie sah ihn nachdenklich an, ruhig, mit unergründlicher Miene.
»Verlass mich nicht, Nadine.«
Er sprach wie ein Kind. Sie wandte das Gesicht ab, damit er nicht die jähe Qual in ihren Augen sah.
Sie kniete neben ihm nieder.
»Dann komm mit. Geh mit mir fort! Du kannst es. Du musst es nur wollen!«
Er wich vor ihr zurück.
»Ich kann nicht. Ich kann es einfach nicht. Begreif das doch. Gott steh mir bei - ich habe nicht den Mut dazu...«
Dr. Gerard betrat die Räume des Reisebüros Castle und sah dort Sarah King am Tresen stehen.
Sie blickte auf. »Oh, guten Morgen! Ich mache gerade den Ausflug nach Petra perfekt. Wie ich höre, fahren Sie nun doch mit.«
»Ja, ich konnte es so einrichten.«
»Wie schön.«
»Werden wir eine große Gruppe sein?«
»Wie man mir sagte, sind außer Ihnen und mir nur noch zwei Damen dabei. Also gerade ein Wagen voll.«
»Das wird bestimmt sehr nett«, sagte Gerard mit einer kleinen Verbeugung und widmete sich dann seinen Angelegenheiten.
Als Sarah das Reisebüro verließ, schloss er sich, mit seiner Post in der Hand, ihr wieder an. Es war ein klarer, sonniger Tag, und die Luft war ausgesprochen frisch.
»Was gibt es Neues von unseren Freunden, den Boyntons?«, erkundigte sich Dr. Gerard. »Ich war in Nazareth und Bethlehem und einigen anderen Orten -ein dreitägiger Ausflug.«
Langsam und fast widerstrebend berichtete Sarah von ihren fruchtlosen Bemühungen, Kontakt herzustellen.
»Jedenfalls hatte ich keinen Erfolg«, sagte sie abschließend. »Und heute reisen sie ab.«
»Wohin fahren sie?«
»Ich habe keine Ahnung.«
Ärgerlich fuhr sie fort: »Ich habe das dumme Gefühl, dass ich mich ziemlich zum Narren gemacht habe.«
»In welcher Hinsicht?«
»Mich in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen. «
Gerard zuckte die Schultern. »Das ist Ansichtssache.«
»Sie meinen, ob man sich einmischen soll oder nicht?«
»Ja.«
»Tun Sie es?«
Der Franzose schien amüsiert zu sein. »Sie meinen, ob ich die Angewohnheit habe, mich mit den Problemen anderer Leute zu befassen? Um ganz ehrlich zu sein: Nein.«
»Dann halten Sie es also für falsch, dass ich versucht habe, mich einzumischen?«
»Nein, o nein, Sie missverstehen mich.« Gerard sprach schnell und mit Nachdruck weiter. »Für mich ist es eine rein akademische Frage, ob man - wenn man sieht, dass Unrecht geschieht - versuchen sollte, etwas dagegen zu unternehmen. Das eigene Eingreifen kann von Nutzen sein -aber es kann auch unermesslichen Schaden anrichten! Es lassen sich hierzu keine festen Regeln aufstellen. Manche Leute haben eine Begabung dafür, sich einzumischen - sie machen ihre Sache gut! Andere gehen dabei plump vor und sollten besser die Finger davon lassen! Aber es ist auch eine Frage des Alters. Junge Menschen besitzen den Mut ihrer Ideale und Überzeugungen - ihre Wertvorstellungen sind eher theoretischer als praktischer Art. Sie wissen noch nicht aus eigener Erfahrung, dass Theorie und Praxis zweierlei Dinge sind! Wenn man an sich selbst und an die Rechtmäßigkeit seines Tuns glaubt, kann man oft Dinge erreichen, die den Einsatz wirklich lohnen. Nebenbei bemerkt, richtet man dabei aber auch oft sehr viel Schaden an. Ein älterer Mensch dagegen besitzt Erfahrung. Er hat festgestellt, dass es in den meisten Fällen mehr schadet als nützt, wenn man versucht, sich einzumischen - und darum unterlässt er es klugerweise! Das Resultat ist praktisch das gleiche: Der engagierte junge Mensch richtet nicht nur Schaden an, sondern tut auch Gutes, und der vorsichtig gewordene ältere Mensch tut keins von beiden.«
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